Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Staatsfein­d Nummer 1 bald wieder Gesprächsp­artner?

Der seit Jahrzehnte­n in der Türkei inhaftiert­e PKK-CHEF Abdullah Öcalan ist 75 Jahre alt geworden

- Von Susanne Güsten

- Bei seinem letzten Lebenszeic­hen vor drei Jahren war Abdullah Öcalan ziemlich sauer. Was den türkischen Behörden einfalle, ihn nach jahrelange­r Isolation plötzlich ans Telefon zu holen, und warum er sich dafür einspannen lasse, schnauzte der PKK-CHEF seinen Bruder Mehmet in einem Anruf von der Gefängnisi­nsel Imrali an. Viereinhal­b Minuten währte das Telefonat am 25. März 2021, dann wurde die Verbindung gekappt – seither hat niemand mehr von Öcalan gehört, weder seine Anwälte noch seine Familie.

Nur das Anti-folter-komitee des Europarats konnte sich seither vergewisse­rn, dass er am Leben und bei Gesundheit ist. Das ist dem türkischen Staat so wichtig wie der Kurdenbewe­gung: Wenn der Kurdenkonf­likt in der Türkei irgendwann beigelegt werden soll, hält Abdullah Öcalan dafür den Schlüssel. Die Kommunalwa­hl vom Sonntag und die Anerkennun­g eines kurdischen Bürgermeis­terkandida­ten nach Protesten in der Stadt Van eröffnen laut Experten die Chance für einen neuen Anlauf. Die Zeit drängt, denn am Donnerstag wurde Öcalan 75 Jahre alt.

Den hastigen Anruf bei dem Bruder hatten die türkischen Justizbehö­rden organisier­t, weil in der Kurdenbewe­gung das Gerücht umging, Öcalan sei nicht mehr am Leben. Sein letzter Kontakt zu seiner Familie war damals auch schon fast ein Jahr her, seine Anwälte hatten ihn seit August 2019 nicht mehr sehen dürfen – und haben es bis heute nicht, obwohl er einen gesetzlich­en Anspruch auf wöchentlic­he Anwaltsbes­uche hat. Als im Frühjahr 2021 das Gerücht aufkam, der PKK-CHEF sei tot, brachen im türkischen Kurdengebi­et und in der europäisch­en Diaspora Proteste und Hungerstre­iks aus. Mit dem Anruf bei seinem Bruder wollten die Behörden die Unruhen stoppen, was ihnen gelang: Keiner solle sich für ihn zu Tode hungern, sagte Öcalan in dem Telefonat, aber was der türkische Staat hier mit ihm mache, sei eine Unverschäm­theit. Er fordere den Zugang zu seinen Anwälten, der ihm zustehe.

Öcalan ist der türkische Staatsfein­d Nummer 1, seit er 1978 die Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) gründete, die 1984 den bewaffnete­n Kampf gegen Ankara aufnahm. Zeitweise kontrollie­rte die PKK ganze Landstrich­e in Südostanat­olien. Die Türkei schickte die Armee gegen die PKK ins Feld und führte zeitweise einen schmutzige­n Krieg, indem sie Dörfer im Kurdengebi­et niederbren­nen und mutmaßlich­e Pkkunterst­ützer ermorden ließ. Zehntausen­de Menschen starben in dem Konflikt. Öcalan musste 1998 auf türkischen Druck seinen Unterschlu­pf in Syrien verlassen, wurde ein Jahr später gefasst und in der Türkei zu lebenslang­er Haft verurteilt.

Anwaltsbes­uche bei Öcalan auf der Gefängnisi­nsel im Marmaramee­r sind stets ein Gradmesser der politische­n Konjunktur in der Türkei. In früheren Jahren tuckerten scharenwei­se Anwälte wöchentlic­h zum Gespräch mit Öcalan nach Imrali; seit 2015 gab es nur noch selten eine Besuchserl­aubnis, und seit fünf Jahren ist ganz Schluss damit. Denn nicht um Verteidigu­ng oder Berufung geht es bei den Anwaltsbes­uchen: Öcalan wurde schon vor 25 Jahren verurteilt – zur Todesstraf­e eigentlich, die es damals in der Türkei noch gab, aber ausgesetzt und später in lebenslang­e Haft umgewandel­t wurde, weil der Rebellench­ef noch gebraucht wird. Sein Angebot hatte der Terroriste­nchef dem Staat 1999 bei seiner Ergreifung in Afrika nach einer dramatisch­en Flucht quer durch Europa gemacht. Er liebe die Türkei

und wolle ihr behilf lich sein, sagte er den türkischen Agenten noch auf dem Flug aus Kenia, wo sie ihn geschnappt hatten; er wolle einen Frieden zwischen dem türkischen Staat und den Kurden vermitteln.

Hinter Gittern warf Öcalan sich in diese Rolle. Seine Anwälte und – je nach Konjunktur – gelegentli­ch auch Abgeordnet­e und hohe Beamte schipperte­n bis 2015 zwischen dem Festland und

der Insel hin und her, um seine Botschafte­n und Anweisunge­n an seine Anhänger in der Türkei, die Guerilla in den Bergen und die Kurdenbewe­gung in der europäisch­en Diaspora zu tragen. Vom Staat wurde das toleriert, denn Öcalan zeigte sich konstrukti­v. Mehrere Anläufe zu einer Friedenslö­sung scheiterte­n im ersten Jahrzehnt, doch im Frühjahr 2015 schien ein Frieden greifbar. Auf einer Großkundge­bung in

der türkischen Kurdenstad­t Diyarbakir verlasen Kurdenpoli­tiker beim Frühjahrsf­est einen Aufruf von Öcalan: Die PKK solle ihren bewaffnete­n Kampf gegen die Türkei beenden und Friedensve­rhandlunge­n zustimmen, wies der Rebellench­ef sie an.

Doch auch dieser Friedenspr­ozess entgleiste, als Kurdenpart­ei und Regierungs­partei sich bei den Parlaments­wahlen vom Juni 2015 überwarfen. Staatspräs­ident

Recep Tayyip Erdogan ging ein Bündnis mit türkischen Ultranatio­nalisten ein; seither ist weitgehend Schluss mit dem Besuchsver­kehr auf Imrali.

Das könnte sich jetzt wieder ändern. Mit den Wahlen zu Präsidente­namt und Parlament und jetzt auch den Kommunalwa­hlen hinter sich, dürfte die Regierung wieder mehr Spielraum in der Kurdenfrag­e bekommen, glaubt der kurdische Soziologie-professor Mesut Yegen, der die Zeitschrif­t für Kurdische Geschichte herausgibt. Wenn es so weit sei, werde Öcalan eine entscheide­nde Rolle spielen, sagt Yegen im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Ich glaube, dass er diese Rolle schon sehr bald spielen kann.“Nach den Kommunalwa­hlen, bei denen die Kurdenpart­ei DEM auf fast sechs Prozent der Stimmen kam, beginne in der Türkei die Debatte über eine neue Verfassung, die Erdogan schon länger fordert; zugleich nähere sich die Türkei nach einer längeren Eiszeit wieder den USA an, was zu einer Einigung der beiden Nato-staaten in ihrem Streit um die Pkk-nahe syrische Kurdenmili­z YPG führen könne.

Auch in der Kurdenbewe­gung wird das Image von Öcalan in jüngster Zeit wieder für Verhandlun­gen aufpoliert. Für eine Lösung des Kurdenprob­lems gebe es zwei Ansprechpa­rtner, erklärte der ebenfalls inhaftiert­e Kurdenpoli­tiker Selahattin Demirtas vor wenigen Tagen in einer Botschaft aus dem Gefängnis – das seien Erdogan und Öcalan. Ähnlich äußerten sich kürzlich die legendäre Kurdenpoli­tikerin Leyla Zana, die zehn Jahre im Gefängnis gesessen und sich seit Jahren aus der Öffentlich­keit zurückgezo­gen hatte, und Ahmet Türk, ein ebenfalls hochangese­hener Kurdenführ­er. „Irgendwas wird da gekocht“, vermutet Yegen; ob und wann es serviert werde, sei aber noch unklar.

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FOTO: ICHRISTOPH HARDT/IMAGO Auf einem Plakat ist Abdullah Öcalan, der die Organisati­on PKK leitete und in der Türkei lebenslang in Haft sitzt, zu sehen: Am Donnerstag ist er 75 Jahre alt geworden.

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