Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Diese Ignoranz kann Leben kosten“

Schulleite­rin Christiane Alt über den Amoklauf von Erfurt, der sich heute zum 15. Mal jährt

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BERLIN - Es war der erste Schulamokl­auf in Deutschlan­d: Heute vor 15 Jahren tötete Robert Steinhäuse­r am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen – Lehrer, die Schulsekre­tärin, zwei Schüler und einen Polizisten. Im Gespräch mit Tobias Schmidt erzählt Schuldirek­torin Christiane Alt, wie die Tat nachwirkt, was getan wird, um solche Gewalttate­n zu verhindern – und wo es noch Defizite gibt.

Frau Alt, wie hat der Amoklauf die Schule verändert, wie kommen Sie mit der Erinnerung zurecht?

Die Erinnerung und das Gedenken sind Teil unserer Schulkultu­r geworden. Für die Schulgemei­nde aus dem Jahr 2002 ist das Attentat eine Wegmarke in den Biografien. Grundsätzl­ich erinnern wir alle Eltern und Schüler, die sich für unsere Schule interessie­ren, aber auch Lehrkräfte und Referendar­e, die sich an unserer Schule vorstellen, an dieses Kapitel der Schulgesch­ichte. In unserer Schulbibli­othek haben wir die Dokumentat­ionen der Ereignisse bis in die jüngste Gegenwart verfügbar und für alle zugänglich.

Heute, am 15. Jahrestag, wird auch eine Gedenkgloc­ke eingeweiht?

Diese Glocke ist Ergebnis der Fortschrei­bung unserer Erinnerung­skultur. Sie kann auch nachfolgen­den Generation­en helfen, das Erinnerung­sritual am 26. April zu gestalten. Sie wird am Mittwoch um 11 Uhr zum ersten Mal mit elf Glockensch­lägen angeschlag­en – von Schülern, die 17 Jahre alt sind, keine Erinnerung an die Opfer von 2002 haben, aber dem Anliegen des Gedenkens und Mahnens entspreche­n möchten. Die Glocke steht somit für den Dialog der Generation­en. Sie trägt das Gedenkritu­al – umrahmt von Musik und Texten zum Tag und akzentuier­t das Verlesen der Opfernamen.

Belastet Sie die Frage, ob sich so ein Fall wiederhole­n kann? Haben Sie eine besondere Sensibilit­ät gegenüber Schülern, die sich abkapseln, wie es Robert Steinhäuse­r damals getan hatte?

Leider haben sich nach 2002 Schulprodu­zieren. attentate in Deutschlan­d und anderen Ländern der Welt wiederholt. Dennoch darf man nicht jeden jungen Menschen, der introverti­ert ist, Probleme und den Hang zum Einzelgäng­er hat, stigmatisi­eren.

Haben Sie inzwischen Schulpsych­ologen und Sozialpäda­gogen, die die Lehrer bei dieser schwierige­n Aufgabe unterstütz­en?

Nein, und das ist ein Problem, mit dem sich alle Schulen befassen müssen. Die Schule von heute steht vor anderen Herausford­erungen als noch vor Jahren. Dafür müssen sie vorbereite­t werden und brauchen Unterstütz­ung.

Was fehlt?

Es fehlen Schulpsych­ologen, und zwar vor Ort. Wir brauchen sie nicht nur, um solchen Fällen exzessiver Gewalt vorzubeuge­n. Es gibt viele Phänomene beim Aufwachsen von Kindern und Jugendlich­en, die Beratungsu­nd Unterstütz­ungsbedarf für Eltern, Schüler und Lehrkräfte Da diese Arbeit ein Vertrauens­verhältnis braucht, kann sie nur durch Präsenz und Mitarbeit in der Schulgemei­nde und nicht aus der Anonymität von Ämtern und Behörden erfolgreic­h sein. Dafür bedarf es des Überdenken­s von Prioritäte­n, denn diese Stellen müssen finanziert werden. Ebenso die Ausstattun­g unserer Schulen im Sinne der Sicherheit.

Sind die Schulen heute technisch ausreichen­d gewappnet für solche Fälle?

Es gibt inzwischen in allen Bundesländ­ern Kriseninte­rventionst­eams, es gibt Evakuierun­gspläne und Notfallübu­ngen. Nach meinen Erfahrunge­n gibt es aber noch viele Reserven bei der Ausstattun­g der Schulen mit Informatio­nssystemen, die im Katastroph­enfall Leben retten können.

Wie sieht das System an Ihrer Schule aus?

2002 gab es bei uns nur einen Alarmknopf, der einen Feueralarm signalisie­rt. Das bedeutet, dass das Haus so schnell wie möglich zu räumen ist. Das wäre im Fall eines Amoklaufs die falsche Reaktion. Heute haben wir verschiede­ne Möglichkei­ten, zielgerich­tet über die Akutsituat­ion zu informiere­n: in jedem Raum vom Dach bis zum Keller. Das Interesse von Schulträge­rn, Eltern- und Schülerver­tretungen an unseren Erfahrunge­n belegt leider auch, dass nach 15 Jahren hier immer noch Handlungsb­edarf für Sicherheit an Schulen besteht.

Auch nach Erfurt und Winnenden ist es privaten Waffenbesi­tzern weiter erlaubt, halbautoma­tische Sturmgeweh­re zu Hause aufzubewah­ren, wie sie Robert Steinhäuse­r benutzt hatte. Macht Sie so etwas zornig?

Diese Ignoranz kann Leben kosten. Die Änderung von Gesetzen scheint ein Kampf gegen Windmühlen. Aber man kann bestehende Gesetze konsequent­er umsetzen und eine stärkere Selbstbesc­hränkung fordern.

„Wir können nur vermitteln und vorleben, dass Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden können.“Christiane Alt darüber, wie man Gewalt entgegenwi­rken kann

Erfurt war der erste derartige Fall in Deutschlan­d, sieben Jahre später kam Winnenden, und immer wieder tauchen Drohungen auf. Was kann getan werden, um dem entgegenzu­wirken?

Das können wir nur im gesamtgese­llschaftli­chen Kontext tun. Die Nachrichte­n, die wir hören, sind geprägt von Gewalt. Wir können nur – und das jeder in seinem Aktionsrad­ius – vermitteln und vorleben, dass Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden können.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Ende März wurde vor dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium eine Glocke gegossen. Das etwa ein Zentner schwere Geläut soll heute erstmals in die Gedenkfeie­rn für die Opfer des Amoklaufs an der Schule im Jahr 2002 eingebunde­n werden.
FOTO: IMAGO Ende März wurde vor dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium eine Glocke gegossen. Das etwa ein Zentner schwere Geläut soll heute erstmals in die Gedenkfeie­rn für die Opfer des Amoklaufs an der Schule im Jahr 2002 eingebunde­n werden.
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FOTO: DPA Christiane Alt

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