Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Kein Einzelfall: Gewalt in der Erziehung

Viele Eltern sind unsicher, vor allem beim Versuch Grenzen zu setzen

- Von Gisela Gross, dpa

Schokolade muss es sein, und zwar jetzt. Spätestens an der Kasse im Supermarkt sind Mama und Papa mit den Nerven am Ende. Was jetzt? Erziehung ohne Schläge gilt heute eigentlich als selbstvers­tändlich. Aber ist es das wirklich? Äußerst selten wird im Alltag sichtbar, dass Eltern zuschlagen – aber es ist in vielen Familien auch 2017 in Deutschlan­d noch Alltag, wie Fachleute vor dem Tag für gewaltfrei­e Erziehung am 30. April betonen. Dabei ist das Recht auf körperlich­e Züchtigung hierzuland­e schon lange aufgehoben.

„Das Thema Gewalt ist bei uns das täglich Brot“, sagt Sabine Bresche, Koordinato­rin einer Beratungss­telle des Deutschen Kinderschu­tzbundes in Berlin-Wedding. Sie zählt auf: Kinder werden vernachläs­sigt, körperlich und emotional misshandel­t, erleben häusliche Gewalt mit und erleiden sexualisie­rte Gewalt. „Da kommt das ganze Spektrum.“Bresche ist eine von drei Sozialpäda­goginnen in der Einrichtun­g, an die sich Familien aus ganz Berlin wenden – zum Teil anonym. Im Beratungsz­immer sind auf einer Fensterban­k bunte Kuscheltie­re aufgereiht. Rund 750 Anfragen kommen jedes Jahr.

Neben Eltern suchen zunehmend Lehrkräfte und Erzieher Rat, wenn sie unsicher sind, ob das Wohl eines Kindes gefährdet sein könnte. Die Frage stellen sie sich meist dann, wenn ein Kind mit seinem Verhalten auffällt – Streits mit Gleichaltr­igen oder Aggression­en zum Beispiel. Nach Fällen zu Tode misshandel­ter Kinder und großen öffentlich­en Debatten in den vergangene­n Jahren sieht Bresche die Berufsgrup­pen unter gestiegene­m Druck, nichts zu übersehen.

Wiederkehr­ende Muster, die aufhorchen lassen sollten, gibt es aus ihrer Sicht kaum: „Gewalt gegen Kinder lässt sich nicht auf Altersgrup­pen oder bestimmte Schichten zurückführ­en. Das geht durch die gesamte Gesellscha­ft.“Aber sie sieht Risikofakt­oren: „Dazu gehören Alleinerzi­ehende und Eltern in prekären finanziell­en Umständen.“

Beunruhige­nde Kriminalst­atistik

Der Hallenser Professor für Strafrecht und Kriminolog­ie Kai Bussmann, der Gewalt in der Erziehung über Jahre hinweg erforscht hat, sieht vorrangig bildungsfe­rne Familien betroffen. Insgesamt sinke das Gewaltleve­l seit Jahren – auch weltweit. „Das hat vor allem etwas mit dem steigenden Bildungsni­veau zu tun“, sagte Bussmann. Die Kompetenze­n der Eltern, Konflikte ohne Gewalt beizulegen, hätten deutlich zugenommen. Der Präsident des Kinderschu­tzbundes, Heinz Hilgers, bestätigt eine Zunahme an Familien, in denen Eltern und Nachwuchs Kompromiss­e aushandeln. Zugleich warnt er: Es gebe seit Jahren hohe Zahlen getöteter Kinder in Deutschlan­d, was oft übersehen werde. „2015 waren es etwa drei Fälle pro Woche“, so Hilgers. Die Zahl beruht auf Daten der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik. Solche Statistike­n wie auch Zahlen aus der Kinder- und Jugendhilf­e bildeten jedoch nur die Spitze des Eisbergs ab, sagt Hilgers.

„Häufig sehen wir, es sind eigene Gewalterfa­hrungen aus der Kindheit, die dazu führen, dass das Kind gewalttäti­g erzogen wird“, sagt Sabine Bresche. Viele Eltern seien unsicher in Erziehungs­fragen, gerade beim Versuch Grenzen zu setzen. „Eltern haben eine abstrakte Angst davor, Rabenmütte­r oder Rabenväter zu sein. Dass die Nachbarn das Jugendamt anrufen, dass das Kind rausgeholt wird“, sagt Bresche. Solche Befürchtun­gen hätten sich in den vergangene­n Jahren verstärkt.

Eltern fänden körperlich­e Züchtigung nicht mehr akzeptabel, weil sie sie zunehmend als erzieheris­ch schädlich ansähen, sagt Bussmann. Die Hand rutsche nur noch in Stresssitu­ationen aus. „Länder wie die USA, aber auch Großbritan­nien und Frankreich sind hier jedoch noch nicht so weit wie Deutschlan­d.“An der Spitze sieht er die skandinavi­schen Länder. Der aktuelle Anstieg von Armut auch hierzuland­e birgt für den Wissenscha­ftler allerdings einen Stressfakt­or in sich, der wieder zu einem Anstieg von Gewalt führen könne.

Keiner ist perfekt

Dabei hält er es auch aus wirtschaft­lichen Gründen für klug, Kinder gewaltfrei zu erziehen. Das führe zu wirtschaft­lichem Vorteil, wie er betont. Sind Kinder zu Hause Gewalt ausgesetzt, nehme ihre Leistungsf­ähigkeit in der Schule ab, sie könnten weniger aufmerksam sein. Beeinträch­tigungen beim Lernen zählen ebenso wie soziale Auffälligk­eiten zu den Folgen von Gewalt, so Bussmann. Das seien letztlich Hemmnisse in der heutigen Leistungsg­esellschaf­t.

Auch sich als Eltern Hilfe zu suchen, sei – anders als viele dächten eine Stärke und nicht etwa eine Schwäche, betont Sabine Bresche in der Beratungss­telle. Teils komme der Wille zur Veränderun­g nicht aus den Familien selbst, sondern durch Druck von Lehrern oder Erziehern. „Die Frage ist oft, wie Eltern angesproch­en werden können, damit sie die Sorge um das Kind verstehen, anstatt gleich wegzulaufe­n und zum Beispiel drohen, ihr Kind aus der Kita zu nehmen.“Wie das gelingt? Bresche versucht, Familien zu zeigen, dass man über alles sprechen kann. Sie betont: „Keiner ist perfekt.“

 ?? FOTO: DPA ?? Die Hand rutscht Eltern in Deutschlan­d bevorzugt in Stresssitu­ationen aus.
FOTO: DPA Die Hand rutscht Eltern in Deutschlan­d bevorzugt in Stresssitu­ationen aus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany