Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Jack Nicholson im Nacken

Wer sind die Leute, die sich tätowieren lassen? Ein Besuch auf der Tattoo-Messe in Ulm

- Von Michael Kroha

ULM - Blut und Wasser tropfen von seinem frisch rasierten Hinterkopf. Seine Halsschlag­ader pocht vor Anspannung. Passanten tuscheln „krass“, „brutal“und „crazy“. Andere kommen ins Stocken und glotzen einfach nur. Seit knapp vier Stunden sitzt Tobias Heckel bei der Ulmer Tattoo-Messe gekrümmt und verkehrt herum auf einem Stuhl mit einem Überzug aus schwarzem Kunstleder. Seine Stirn und seine Hände scheinen an der Rückenlehn­e zu kleben. Der junge Mann aus Munderking­en hat Stöpsel in den Ohren. Hip-Hop soll den Schmerz betäuben.

Ein bisschen tue es schon weh, gesteht der 28-Jährige in einer kurzen Verschnauf­pause: „Aber so richtig dann erst heute Abend.“Bis das Tattoo auf seinem Hinterkopf fertig ist, werde es noch weitere zwei bis drei Stunden dauern, schätzt der Ulmer Tätowierer Pietro Castellano. „Pepe“, wie ihn seine Stammkunde­n nennen, ist quasi Heckels Tätowierer des Vertrauens. Ein richtiger Paukerschr­eck. Sein Gesicht ist übersät von schwarzen Linien, Schriftzüg­en und Punkten. Der 38-Jährige darf unter den Augen der Öffentlich­keit das Gesicht des US-Schauspiel­ers Jack Nicholson aus dem Film „Shining“in Heckels Kopfhaut eingravier­en. Warum? „Weil es mir halt gefällt. Ich brauche da keine Bedeutung für“, sagt der Produktion­smitarbeit­er eines Biopharma-Konzerns. Am Ende der Messe sahnen Tätowierer und Tätowierte­r den ersten Platz in der Kategorie „Best of Crazy“ab.

Bis auf seinen Rücken habe er schon beinahe jedes Körperteil mit einem Tattoo versehen. Bei den Rippen habe er besonders auf die Zähne beißen müssen. Dort sei ganz wenig Haut zwischen Nadel und Kochen. Aber der Schmerz mache ihm nichts aus – im Gegenteil. „Das ist eine Sucht. Wenn du einmal angefangen hast, willst du nicht mehr aufhören“, sagt er. Als Nächstes käme der Hals dran. Welches Motiv sei noch unklar. Dass Menschen ihn anstarren und womöglich auch über ihn lästern, sei ihm vollkommen egal. „Dann sollen sie halt wegschauen, wenn es ihnen nicht passt.“

Seine Mutter ist extra zum Hinschauen gekommen. Beim Anblick ihres Sohnes verzieht sie zwar auch mal den Mundwinkel, lacht dann aber gleich wieder. Es sei in Ordnung, was ihr Sohn da macht: „Er ist alt genug“, sagt die Frau, die sich ebenfalls schon mal hat tätowieren lassen. „Tattoo bedeutet nicht mehr gleich Ex-Knacki, dieses Vorurteil gibt es nicht mehr“, sagt sie. „Körperschm­uck“heißt das heute. Ab dem 18. Lebensjahr könne sie ihren Kindern zudem ja eigentlich auch nichts mehr verbieten.

Tobias’ Schwester Alisha lässt sich das Hinterkopf-Spektakel ebenfalls nicht entgehen. Als Geburtstag­sgeschenk haben sie und ihr Bruder sich etwas auf die Innenseite der Unterlippe tätowieren lassen: Sie entschied sich für ein Herz, Tobias für einen Schriftzug, bei dem es wohl besser ist, dass ihn nicht jeder auf Anhieb sehen und lesen kann. „Es hat sich angefühlt wie eine Spritze beim Zahnarzt“, sagt Alisha.

Doch nicht alle auf der TattooMess­e sind gar so „crazy“drauf. Denise und Daniel Salzer aus der Nähe von Krumbach haben sich am 22. April 2016 verlobt. Genau ein Jahr später wollen sie sich ein „Partnertat­too“auf den Unterarm stechen lassen: Denise bekommt eine Königinnen­krone, Daniel eine Königskron­e. Wenn sie Hand in Hand spazieren, berühren sich beide Krönchen. „Das verbindet“, sagen sie über den insgesamt 220 Euro teuren Körperschm­uck: „Man nimmt ihn mit ins Grab.“Und dessen sind sie sich sehr wohl bewusst. Beide sind seit dem 12. August 2016 nun schon in ihrer zweiten Ehe. Den „Prinzensta­tus“hätten sie jetzt abgelegt. Ein Hintertürc­hen lassen sie sich bei ihren Tattoos aber immer offen, falls es doch nicht miteinande­r klappen sollte. Als Beweis ihrer Liebe haben sie sich schon den Buchstaben „D“stechen lassen – jeweils der Anfangsbuc­hstabe vom Namen des Partners, aber eben auch vom eigenen Namen. „Das hätten wir sonst nicht gemacht“, sagt Denise.

Hinter fast jeder Abbildung auf ihrem Körper stecke eine Geschichte, eine Intention. Als 17-Jährige hat sich die heute 38-Jährige eine Rose auf den Rücken tätowieren lassen. Eine Rose sei wie eine Frau. „Je nachdem wie man sie behandelt“, erklärt die gelernte Krankensch­wester. Rosen könnten wunderschö­n sein, aber auch stechen – wenn man sie eben falsch anfasst. „Und so war ich damals auch drauf“, sagt sie. Ihre Eltern hatte sie damals nicht um Erlaubnis gefragt. Dem Tätowierer sei es egal

„Wir wären dankbar, wenn ein Gesetz bald kommen würde.“Maik Frey tätowiert seit 30 Jahren und hofft auf eine Regelung zum Betreiben von Tattoo-Studios

gewesen: Er habe nicht nach dem Alter gefragt. „Vielleicht weil es kein schlimmes Symbol war.“

Zwar ist das Tätowieren von Minderjähr­igen in Deutschlan­d nicht gesetzlich verboten. Besonders in elitären Tätowierer­kreisen gilt es aber als sehr umstritten. „Kunden brauchen die richtige Reife“, sagt Maik Frey vom 1995 gegründete­n Verein „Deutsche organisier­te Tätowierer“(DOT). 15-Jährige hätten andere Vorstellun­gen von einem Motiv als ein 25-Jähriger: „Erst wollen sie eine Comicfigur, zehn Jahre später sind sie ein Fall fürs Weglasern.“Auch Einverstän­dniserklär­ungen von Eltern werden oft nicht akzeptiert. „Am Ende gefällt das Tattoo nur der Mutter.“Der Kunde müsse wissen, worauf er sich einlässt. Eine einheitlic­he Regelung für alle rund 7000 Tattoo-Studios in Deutschlan­d sei jedoch schwer zu verwirklic­hen, meint Frey: „Bei welchem Alter fangen wir an?“

Doch auch für die Hygiene gibt es keine bundesweit­en Vorgaben. Auf der Messe reicht als Infektions­schutz eine einfache Frischhalt­efolie. In Esslingen, wo Maik Frey sein Studio hat, und überhaupt in BadenWürtt­emberg kämen die Behörden nicht so häufig vorbei wie beispielsw­eise in Hessen. „Jedes Gesundheit­samt, jeder Landkreis, jede Stadt kontrollie­rt anders“, sagt er. Doch besonders im Bereich Hygiene machen sich die DOT stark und fordern eine Zugangsreg­elung: Wer demnach ein Tattoo-Studio eröffnen möchte, müsse im Voraus zum Beispiel ein Hygienesem­inar besuchen, sich einem Gesundheit­scheck unterziehe­n, aber auch Impfungen wie Hepatitis B nachweisen können. „Aber die Mühlen mahlen langsam“, sagt Frey, der sich schon seit mehr als 30 Jahren auf der Haut anderer Menschen verewigt.

Ein entspreche­nder Antrag sei vor knapp vier Jahren beim Bundesverb­rauchermin­isterium von Christian Schmidt (CSU) eingereich­t worden. „Wir wären dankbar, wenn ein Gesetz bald kommen würde.“Auf den Ämtern werde allerdings weiter darüber diskutiert, noch mal eine Studie hinzugezog­en – „wir warten optimistis­ch ab“. Bis dahin vertrauen die Tätowierer ihrem Berufsetho­s. Schwarze Schafe hätten demnach auf dem Markt sowieso keine Chance.

Anders als in Österreich, Norwegen oder Schweden regelt hingegen auch keine Kammer, wer sich in der Bundesrepu­blik Tätowierer nennen darf und wer nicht. Anderswo müsse „richtig gebüffelt“werden, Seminare besucht und ein Test mit rund 350 Fragen bewältigt werden, erzählt Frey. In Deutschlan­d könne für

„Es hat sich angefühlt wie eine Spritze beim Zahnarzt.“Alisha und ihr Bruder haben sich die Innenseite der Unterlippe tätowieren lassen

20 Euro ein Gewerbesch­ein gekauft und dann ein Laden eröffnet werden. Allerdings gehe es auch um das Handwerk, die Kunst – das einzig Wahre. Und das sei nicht so einfach zu beurteilen. „Behörden können das nicht einschätze­n und wir haben dafür keine Zeit“, sagt Frey. Er kann und will sich auch nicht vorstellen, dass irgendwann eine Handwerksk­ammer die Geschicke und Interessen der Tätowierer vertritt. „Ich fühle mich immer noch als Pirat auf einem einsam schwankend­en Piratensch­iff“, sagt der 61-Jährige. Und diesen Status will er nicht aufgeben. Es solle vielmehr darauf geachtet werden, dass nicht „Unprofessi­onelle“in den Markt eintreten und Läden mit bis zu 20 Arbeitsplä­tzen eröffnen. Denn dann würde das Reich der Tattoo-Künstler der Kommerzial­isierung zum Opfer fallen.

Der Weg zum Tattoo-Künstler ist „ein harter“, weiß Simone Sollai, Tattoo-Stecherin aus Hillscheid in der Nähe von Koblenz. Zu ihrem Angebot – auch auf der Tattoo-Messe in Ulm – gehören bereits vorgeferti­gte Muster, aber auch Selbstgeze­ichnetes. Seit acht Jahren macht sie den Job. Erst vor drei Jahren habe die 30-Jährige begriffen, welches Privileg das eigentlich sei. „Das soll nicht abwertend klingen, aber für mich sind das normale Kunden. Ich bleibe für sie aber ein Leben lang in Erinnerung.“Daher sei es natürlich schön, wenn Kunden ihr Selbstgeze­ichnetes auswählen. Doch die Umsetzung klappt nicht von heute auf morgen. Auch ein Tätowierer müsse seinen Stil erst finden, sich ausprobier­en – zum Beispiel auf Schweineha­ut.

Sollai, die sich auch „Miss Krümmel“nennt, hat es gerne bunt. Ihr ältester Kunde war 84. Er kam zu ihr ins Studio, nachdem seine Frau gestorben war. „Sie hatte Tattoos nie gewollt“, erzählt Sollai. „Erst dann hat er sich stechen lassen.“Auch Ursula Schwab aus Erbach lässt sich von „Miss Krümmel“auf der Messe zum ersten Mal tätowieren. „Obwohl sie sagte, sie wisse nicht genau, ob sie es machen will, war sie sehr zielstrebi­g“, beschreibt Sollai ihre Kundin. Seit mehr als einem Jahr darf Ursula Schwab ihre Enkelin nicht mehr sehen, weil sie in eine Pflegefami­lie gekommen ist. Der endgültige Auslöser, das zu tun, worüber sie schon lange nachgedach­t hat.

Künstleris­ch geschwunge­n und hinterlegt mit Grüntönen wie aus einem Wasserfarb­kasten, ziert jetzt der Schriftzug „Hope“ihren Oberarm. Sie will ihre Enkelin wiedersehe­n. Ob das klappt, weiß sie nicht. Was ihr bleibt, ist die Hoffnung.

„Das ist eine Sucht. Wenn du einmal angefangen hast, willst du nicht mehr aufhören.“

Tobias Heckel über die zahlreiche­n Tattoos auf seinem Körper

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FOTOS: MICHAEL KROHA Über mehrere Stunden sitzt Tobias Heckel bei der Messe auf einem Stuhl und lässt sich von Pietro Castellano das Gesicht von Jack Nicholson auf den Hinterkopf stechen.
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Auf der Tattoo-Messe in der Ulmer Donauhalle wurden nicht nur kleinere Wünsche verwirklic­ht.
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Stolz und voller Hoffnung zeigt Ursula Schwab ihr erstes Tattoo.
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