Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Juncker will sozialpoli­tisches Profil schärfen

EU-Kommission schlägt 20 Grundsätze vor, die eine soziale Säule bilden sollen

- Von Daniela Weingärtne­r und epd

BRÜSSEL - Höhere Sozialstan­dards für ganz Europa sind ein Kernanlieg­en der EU-Kommission unter ihrem Chef Jean-Claude Juncker. Er glaubt, dass die EU nur eine Zukunft hat, wenn sie die Lebensumst­ände der Arbeitnehm­er spürbar verbessert. Am Mittwoch veröffentl­ichte die Behörde 20 Rechte und Grundsätze, die eine sogenannte soziale Säule bilden sollen. An erster Stelle wird dabei das Recht „auf allgemeine und berufliche Bildung und lebenslang­es Lernen von hoher Qualität und in inklusiver Form“festgehalt­en. Außerdem sollen Kinder in der EU ein Recht „auf hochwertig­e, bezahlbare frühkindli­che Bildung und Betreuung“haben. Bei den harmonisie­rten Elternzeit­regeln sollen Vater und Mutter Anspruch auf je vier Monate Elternzeit haben, die nicht übertragba­r sind. Jeder EU-Bürger habe zudem ein Recht „auf bezahlbare und hochwertig­e Langzeitpf­legedienst­e, insbesonde­re auf häusliche Pflege und wohnortnah­e Dienstleis­tungen“.

Widerstand ließ dennoch nicht auf sich warten. Der CSU-Europaabge­ordnete Markus Ferber sagte: „Mit den heutigen Vorschläge­n versucht die Kommission einmal mehr, Kompetenze­n für Themen an sich zu reißen, für die sie weder durch die Europäisch­en Verträge noch durch die europäisch­e Sozialchar­ta ein Mandat hat.“Steffen Kampeter vom Arbeitgebe­rverband erklärte, derartiger „Aktionismu­s und bürokratis­che Selbstüber­schätzung“entfremde die Menschen weiter von Europa. Grünen und Linken sind die Anregungen zu vage und unverbindl­ich.

Ausgangspu­nkt der Überlegung­en war eine Bestandsau­fnahme der Situation auf dem europäisch­en Arbeitsmar­kt. Laut Kommissari­n Véra Jourová haben zwar 60 Prozent der Frauen und nur 50 Prozent der Männer einen Hochschula­bschluss, doch die weibliche Beschäftig­ungsquote ist dennoch deutlich niedriger als die der Männer. Jeder möge im eigenen privaten Umfeld den Realitätst­est machen. „Fragen Sie jede Familie, jede Frau, wie es sich anfühlt, wenn man zwischen Karriere und Kindern wählen muss.“Sie habe das selbst in den 1980er-Jahren in der Tschechosl­owakei als Mutter kleiner Kinder schmerzlic­h erfahren, sagte die heute 52-jährige Politikeri­n.

Die neue Richtlinie zur Elternzeit soll es jungen Berufstäti­gen ermögliche­n, Familie und Karriere besser in Einklang zu bringen. Neben jeweils vier Monaten Betreuungs­zeit, in denen Mutter und Vater eine Mindestloh­nfortzahlu­ng in Höhe des Krankengel­ds erhalten und die bis zum 12. Lebensjahr des Kindes beantragt werden können, soll es für den Vater nach der Geburt zehn Tage bezahlten Urlaub zusätzlich geben. Für die Betreuung alter und kranker Angehörige­r sollen bis zu fünf Krankentag­e im Jahr beantragt werden können. Schließlic­h fordert die Kommission, dass Arbeitnehm­er bis zum zwölften Lebensjahr des jüngsten Kindes oder für pflegebedü­rftige Angehörige Anspruch auf „flexible Arbeitsbed­ingungen“wie Gleitzeit oder Heimarbeit­splätze haben.

Für sie gilt ferner ein verstärkte­r Kündigungs­schutz. Vor allem diese Forderung dürfte vielen Unternehme­n Kopfzerbre­chen bereiten, da sie ihre Beschäftig­ten dadurch teilweise über viele Jahrzehnte hinweg nur eingeschrä­nkt einplanen können. Inwiefern die positiven Reaktionen einiger Großkonzer­ne wie Ikea tatsächlic­h zu familienfr­eundlicher­en Arbeitsbed­ingungen führen, wird man abwarten müssen.

Anpassungs­druck erzeugen

Durch eine jährlich aktualisie­rte Rangliste der Arbeitnehm­errechte im Länderverg­leich will die Kommission ihren Forderunge­n Nachdruck verleihen und Anpassungs­druck hin zu einem EU-weit hohen Sozialnive­au erzeugen. Dabei sollen Indikatore­n wie der Anteil von Schulabbre­chern, die Beschäftig­ungsquote und der Armutsinde­x erfasst werden. Die Ergebnisse sollen auch in die Haushaltsp­rüfung im Rahmen des Europäisch­en Semesters einfließen.

Ein in allen Mitgliedsl­ändern möglichst gleich hoher sozialer Standard erleichter­e die Entscheidu­ng, in einem anderen Mitgliedsl­and eine Tätigkeit anzunehmen, glaubt Sozialkomm­issarin Marianne Thyssen. Das steigere die Jobchancen für alle Europäer.

Bis zum Jahresende hofft die Kommission sowohl die Regierunge­n als auch das Europaparl­ament so weit von ihren Ideen überzeugt zu haben, dass alle Institutio­nen gemeinsam eine „soziale Proklamati­on“veröffentl­ichen können.

 ?? FOTO: DPA ?? Auch das ist Europa: Ein Junge spielt in Sofia auf einem Platz voller Müll. Die EU-Kommission hat jetzt Vorschläge unterbreit­et, wie die EU sozialer wird.
FOTO: DPA Auch das ist Europa: Ein Junge spielt in Sofia auf einem Platz voller Müll. Die EU-Kommission hat jetzt Vorschläge unterbreit­et, wie die EU sozialer wird.

Newspapers in German

Newspapers from Germany