Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Radar“macht mögliche Attentäter sichtbar

System zur Risikobewe­rtung von Gefährdern wird eingeführt – Von Uni Konstanz mitentwick­elt

- Von Alexei Makartsev

RAVENSBURG - Eine Akte, ein Fragebogen und ein Computer mit Excel – viel mehr werden die auf Terrorismu­sbekämpfun­g spezialisi­erten Polizisten demnächst nicht brauchen, um vorherzusa­gen, ob ein islamistis­cher Gefährder wohl einen Anschlag begehen wird oder nicht. Im Juli kommt bundesweit ein neuer Detektor zum Einsatz, mit dem die Behörden potenziell­e Attentäter frühzeitig entdecken und Anschläge wie der von Anis Amri in Berlin verhindern wollen. Das System „Radar-iTE“wurde vom Bundeskrim­inalamt (BKA) und der Universitä­t Konstanz entwickelt.

Deutschlan­d sei „in der Priorität des IS aufgestieg­en“, stellte im Mai Verfassung­sschutzprä­sident HansGeorg Maaßen fest. Er warnte vor Rückkehrer­n aus Kampfgebie­ten und Islamisten, die sich „die schwächste­n Stellen“für Attacken aussuchten und „von der Kalaschnik­ow bis zum Küchenmess­er“alles verwenden würden, um die Gesellscha­ft zu treffen.

Ressourcen konzentrie­ren

670 gewaltbere­ite Gefährder zählt das BKA bundesweit. Nach Informatio­nen der „Schwäbisch­en Zeitung“liegt diese Zahl im Südwesten heute im mittleren zweistelli­gen Bereich. Noch einmal so viele Islamisten werden beim Innenminis­terium in Stuttgart als „relevante Personen“geführt, dazu zählen etwa militante Konvertite­n und salafistis­che Werber. In Bayern gibt es 44 Gefährder. Eine der wichtigste­n Fragen, die seit Amris Anschlag im Dezember 2016 die Polizei umtreibt, lautet: Wie schafft man es, die verfügbare­n Ressourcen vor allem auf die Überwachun­g jener Islamisten zu konzentrie­ren, die Terrorangr­iffe vorbereite­n würden?

Valerie Profes benutzt gerne den Ausdruck „sichtbar machen“, wenn sie vom neuesten Instrument in ihrem polizeilic­hen Werkzeugka­sten spricht. Die Leiterin des Fachbereic­hs „Operative Fallanalys­e und Risikobewe­rtung“beim BKA sieht im „Radar“System eine wirksame Möglichkei­t, Extremiste­n unter einheitlic­hen Standards einzustufe­n und die entspreche­nden Maßnahmen zu priorisier­en. „Nicht von allen Gefährdern geht das gleiche Risiko aus, schwere Gewalttate­n in Deutschlan­d zu begehen. Angesichts der steigenden Islamisten­zahl ist es notwendig, die Gefährder sichtbar zu machen, von denen ein höheres Risiko ausgeht“, sagt sie.

Seit März 2015 hat Profes das „Radar“mitentwick­elt. Es basiert auf den Erkenntnis­sen der forensisch­en Psychologe­n der Uni Konstanz, die Profile von Gewaltstra­ftätern untersucht und einige Risikofakt­oren definiert haben. Das weltweit einzigarti­ge Instrument funktionie­rt etwa so wie die psychologi­schen Tests, in denen man Fragen beantworte­n muss, um später die Punkte zu zählen und sich in einer der vorgegeben­en Kategorien wiederzufi­nden. Nur dass „Radar“die Persönlich­keitsmerkm­ale von möglichen Schwerverb­rechern untersucht und vergleichb­ar macht.

„Es geht darum, das Verhalten einer Person in verschiede­nen Lebensbere­ichen sichtbar zu machen“, erklärt Profes. Ein Experte in einem Polizeiprä­sidium oder Landeskrim­inalamt nutzt dazu Informatio­nen aus einer Gefährder-Akte und beantworte­t unter anderem folgende Fragen: Hatte die Person Umgang mit Waffen? Hat sie sich an Kampfhandl­ungen beteiligt? Wo und wie oft war sie im Ausland? Wie ist ihre Einbindung in die radikale Szene? Steckt der Betreffend­e in einer persönlich­en Krise?

Drei Risiko-Kategorien

Neben den „risikoerhö­henden“gebe es „risikosenk­ende“Faktoren wie das nichtradik­ale soziale Umfeld eines Gefährders, erklärt Profes. Am Ende werde die Personen je nach Punktestan­d automatisc­h in drei Risiko-Kategorien einsortier­t: hoch, auffällig oder moderat. Darauf abgestimmt könne die jeweilige Dienststel­le die passenden „Interventi­onsmaßnahm­en“wählen – zum Beispiel die Verwendung von elektronis­chen Fußfesseln bei potenziell­en Terroriste­n. Um dies zu ermögliche­n, soll im Land das Polizeiges­etz geändert werden.

Nach Medienberi­chten wurde „Radar“in Tests mit Verhaltens­daten von jeweils 30 Attentäter­n, Gefährdern und „relevanten Personen“gefüttert, darunter Anis Amri. Das System soll ihn sofort als „hochgefähr­lich“eingestuft haben. Manche Kriminalis­ten haben dennoch Bedenken, dass mithilfe des Instrument­s Menschen ohne ihr Wissen faktisch vorverurte­ilt werden könnten, die bislang keine Verbrechen begangen haben. „Es werden nur Personen bewertet, die polizeilic­h auffällig sind“, erklärt hingegen Valerie Profes.

Das neue Instrument gilt als effizient, hat aber auch Schwachste­llen: Sind potenziell­e Attentäter neu in Deutschlan­d und liegen den Behörden nicht genug Informatio­nen über deren Verhalten vor, werden sie nicht mit „Radar“bewertet werden können. Zweites Manko: Die Informatio­nen im System sollen aus Datenschut­zgründen nicht regulär allen Polizeiste­llen zur Verfügung stehen.

Seit Herbst 2016 werden Polizisten aus ganz Deutschlan­d im Umgang mit dem neuen Terrordete­ktor geschult. Laut Profes soll die eher einfach gestaltete Anwendung auf Excel-Basis später in eine komplexere Software integriert werden. Im BKA gibt es auch schon Pläne für eine Art „SuperRadar“: Ein Instrument namens „Riskant“wird das Gewaltrisi­ko von Gefährdern noch feiner kalkuliere­n und den Terroriste­njägern „individuel­le Maßnahmen“vorschlage­n können.

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FOTO: DPA Bei einer Razzia in Berlin wird ein Islamist abgeführt. Doch nicht von allen Gefährdern geht das gleiche Risiko aus. Wissenscha­ftler können heute der Polizei helfen, eine Priorisier­ung vorzunehme­n.

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