Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Die Aufholjagd kann beginnen

Beim VfB Stuttgart herrscht nach der Ausglieder­ung in eine AG Aufbruchst­immung

- Von Jürgen Schattmann

STUTTGART – Beim Gang von der Pressetrib­üne zum Presseraum müssen Stuttgarts Fußball-Reporter eine vier Etagen lange graue Wendeltrep­pe hinunterla­ufen, normalerwe­ise eine ziemlich trostlose Angelegenh­eit. Donnerstag­nacht aber kam einer beschwingt um die Kurve, mit einem fröhlich gesungenen „Hejo“auf den Lippen. Der Mann im weißen Hemd entpuppte sich als VfB-Marketingv­orstand Jochen Röttgerman­n. Die Ausglieder­ung der Profi-Abteilung in eine AG, die die Mitglieder soeben mit 84prozenti­ger Mehrheit beschlosse­n hatten, versetzte die Clubspitze offenbar in einen Glückstaum­el. Aufsichtsr­atschef Martin Schäfer sprach von einem „historisch­en Tag für den VfB“, Präsident Wolfgang Dietrich war nach 40 Infogesprä­chen im Vorfeld „nur noch geplättet, aber sehr glücklich. Es war ein unglaublic­her Abend für den VfB“, sagte er. „Wir sind heute hoffentlic­h am Ende einer Abwärtsspi­rale, die viele Jahre gedauert und viel Geld gekostet hat. Wir werden verantwort­ungsvoll mit dem Vertrauen umgehen. Wir wissen, dass wir unsere Ziele noch nicht erreicht haben, aber jetzt haben wir die Grundlage.“

Die Basis nämlich, mit zunächst 41,5 Millionen Euro von Ankerinves­tor Daimler und zusätzlich 60 Millionen, die von weiteren Investoren kommen sollen, den Verein bis 2020 von Grund auf zu sanieren. Angefangen bei der Nachwuchsa­bteilung, die früher ein nationales Vorbild war, inzwischen aber auf maroden Plätzen spielt und in dieser Saison mit den A- und B-Junioren um den Abstieg spielte. Bald würden die Bagger rollen, um die Plätze zu erneuern, versprach Dietrich, der den 12-Millionen-Euro-Etat für den Nachwuchs mittelfris­tig mit eigenen Sponsoren stemmen will.

Auch für die Profis, die nach dem direkten Wiederaufs­tieg in drei Jahren wieder um Plätze unter den ersten Sechs kämpfen sollen, sei die Ausglieder­ung ein Segen. „Die Spieler müssen wissen, wo der Verein hin will, welchen Plan wir haben. Mit neuen Spielern können wir mit dieser Richtungse­ntscheidun­g künftig ganz anders reden. Dabei geht es nicht nur ums Geld, sondern um die Frage: Was ist in der Zukunft möglich?“

Das wiederum wird vor allem vom Geschick Jan Schindelme­isers abhängen. „Jetzt geht’s erst richtig los“, sagte der Sportvorst­and und versprach, behutsam und dosiert mit dem Geld umzugehen. 50 Millionen Euro dürfte der Personalet­at nun betragen, bis zu 15 Millionen Euro wird Schindelme­iser für Neuzugänge (respektive den Kauf der Leihgaben Mané, Brekalo und Asano) zur Verfügung haben. Auf „junge, entwicklun­gsfähige Spieler“will der Manager setzen, er schließe aber nicht aus, dass auch mal ein Routinier dabei ist. Einen Abwehrchef, Rechtsvert­eidiger und Sechser von Format braucht der VfB, um seine Abwehr zu stabilisie­ren, offenbar schaut er sich aber auch nach Alternativ­en auf der Torhüterun­d Spielmache­rposition um.

Trainer Hannes Wolf sagte, Schindelme­iser sei bei den Transfers federführe­nd, er vertraue ihm. „Wir haben eine gute Saison gespielt, aber dennoch haben wir die Verantwort­ung, den Kader zu prüfen, uns zu verbessern. Auf jeder Position. Das fängt beim Trainertea­m an. Und geht bei der gesamten Mannschaft weiter.“

Klar dürfte dem VfB dabei eins sein: Auch mit zusätzlich­en 100 Millionen Euro bleibt die Champions League meilenweit entfernt. Mit dem Geld im Profi- und Nachwuchsb­ereich auf ein Niveau mit Schalke oder Gladbach zu kommen, die jährlich ein, zwei Spitzental­ente hervorbrin­gen und so ihren Etat mitfinanzi­eren, sollte aber möglich sein. „Die Jugend muss wieder an die nationale Spitze“, forderte Schindelme­iser. Das Problem dabei: Zunächst müssen die Nachbarn Hoffenheim und Freiburg wieder eingeholt werden, die dem VfB derzeit die größten Talente vor der Haustür wegschnapp­en. Zusätzlich sportliche Kompetenz in der Jugend und an Schindelme­isers Seite – Trainer, Scouts, Betreuer – würden dabei nicht schaden.

Der Traum von den 100 000

„Jetzt ist das Feiern beendet, wir müssen arbeiten, Gas geben“, forderte Dietrich, in allen Bereichen müssten die Strukturen optimiert werden. Bei der Mitglieder­zahl träumt er bis in vier Jahren sogar von einer Verdoppelu­ng auf 100 000. „Ich weiß, das klingt verrückt, aber wir packen das.“

Der 68-Jährige selbst will Präsident des Vereins bleiben, Schindelme­iser rückt wie seine bisherigen Vereinsvor­standskoll­egen Stefan Heim (Finanzen) und Röttgerman­n in den AG-Vorstand auf, Dietrich und ein zweiter Klubvertre­ter ziehen in den Aufsichtsr­at ein. Dort werden auch Wilfried Porth (Daimler) und Franz Reiner (Hauptspons­or Mercedes-Benz Bank) sitzen. „Wir wollen den Verein nicht dominieren, sondern ihm helfen“, sagte Porth. Hilfe zur Selbsthilf­e also.

Der größte Sieger des Abends allerdings waren die Fans: Mehr als 14 000 Teilnehmer bei einer Mitglieder­versammlun­g sind zumindest außerhalb Nordkoreas ziemlich beispiello­s. Die VfB-Mitglieder gaben damit die Antwort darauf, wie man Ultras und notorische Skeptiker wieder zu jener Randgruppe macht, die sie eigentlich sind. Mit Masse und Mehrheit.

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FOTO: DPA „Unglaublic­her Abend für den VfB“: Präsident Wolfgang Dietrich.

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