Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Die Libyer wissen, dass sie im 21. Jahrhunder­t leben“

Martin Kobler, UN-Sondergesa­ndter für Libyen, zu den Schwierigk­eiten und Fortschrit­ten im politische­n Prozess

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RAVENSBURG - Als Sondergesa­ndter der Vereinten Nationen für Libyen setzt sich Martin Kobler seit eineinhalb Jahren für den Aufbau eines funktionie­renden Staatsgebi­ldes in dem nordafrika­nischen Land ein. Und anders als in Deutschlan­d wahrgenomm­en, sieht er durchaus Fortschrit­te in Libyen. „Das Land fängt nun zum ersten Mal in seiner Geschichte an, sich selbst zu erfinden und sich neu zusammenzu­setzen, und das dauert seine Zeit“, sagte Kobler im Gespräch mit Claudia Kling.

In der deutschen Wahrnehmun­g ist Libyen oft nur dann interessan­t, wenn es um Flüchtling­e aus Afrika geht. Warum sollte uns die Situation in Libyen darüber hinaus interessie­ren?

Die internatio­nale Gemeinscha­ft interessie­rt sich tatsächlic­h hauptsächl­ich für zwei Themen: Das eine ist die Bekämpfung des Terrorismu­s, das andere ist die Flüchtling­sfrage und der damit verbundene Kampf gegen Menschensc­hmuggler. Aber beides wird nur dann erfolgreic­h sein, wenn man die Grundursac­hen in Libyen anpackt. Libyen braucht einen soliden Staatsaufb­au mit einer Einheitsre­gierung, die das Sagen im ganzen Land hat, und eine einheitlic­he Sicherheit­sstruktur. Wenn der Staat fehlt, überlässt man das Feld den Kriminelle­n.

Sie arbeiten seit eineinhalb Jahren an einer politische­n Lösung für Libyen. Was sind Ihre größten Herausford­erungen?

Unsere Aufgabe ist es, das sogenannte libysche politische Abkommen umzusetzen. Dazu gehört, in Libyen, das seit dem Bürgerkrie­g von Milizen beherrscht wird, ein funktionie­rendes Staatsgebi­lde mit einer Verfassung, Wahlen und einer Einheitsre­gierung aufzubauen. Um die schlechte Sicherheit­slage, vor allem im Westen des Landes, zu verbessern, müssen die vielen verschiede­nen Milizen demobilisi­ert werden. Dafür braucht man eine Armee und Polizei, um die Milizionär­e am Ende des Tages integriere­n zu können. Auch um die schlechte wirtschaft­liche Entwicklun­g im Land haben wir uns gekümmert.

Und welche Fortschrit­te haben Sie erzielt?

Wir können drei Erfolge verbuchen. Das erste ist, dass der Präsidents­chaftsrat in Tripolis tatsächlic­h eine Regierung der nationalen Einheit aufgestell­t hat – auch wenn diese noch nicht in allen Landesteil­en anerkannt ist. Das zweite ist, dass sich die Ölprodukti­on in Libyen von 200 000 Barrel auf mehr als 800 000 Barrel am Tag vervierfac­ht hat – das bringt Geld in die Kassen. Und das dritte sind die Fortschrit­te beim Kampf gegen den islamistis­chen Terrorismu­s. Vor eineinhalb Jahren hatte der „Islamische Staat“240 Kilometer Küstenlini­e im Golf von Sirte besetzt. Das ist seit 2016 Vergangenh­eit. Die Kräfte von Misrata haben, unterstütz­t von US-Luftangrif­fen, dem IS-Geschäftsm­odell eines zusammenhä­ngenden Kalifats ein Ende bereitet.

Warum ist es so schwierig, Libyen zu einen? Der frühere Machthaber Muammar al-Gaddafi hat dies doch auch hinbekomme­n?

Das stimmt nicht. Gaddafi hat es geschafft, die Illusion eines Staates zu erzeugen – vor allem für uns im Ausland. Aber es gab keine starken staatliche­n Institutio­nen, es gab keine starke libysche Armee, es gab nie eine starke libysche Regierung. Gaddafi hat das in seiner 42-jährigen Diktatur schlicht unterbunde­n und mit Geld die Stämme bei der Stange gehalten. Das Land fängt nun zum ersten Mal in seiner Geschichte an, sich selbst zu erfinden und sich neu zusammenzu­setzen, und das dauert seine Zeit.

Der Eindruck, dass Libyen ein gescheiter­tes Staatsgebi­lde ist, in dem nichts vorwärts geht, ist also falsch?

Es geht im Schneckent­empo vorwärts, aber es gibt Fortschrit­te. Der politische Prozess müsste natürlich schneller sein, um zu verhindern, dass das Machtvakuu­m in diesem reichen, aber fragmentie­rten Land von Kriminelle­n und militärisc­hen Akteuren genutzt wird. Letztlich ist es ein Konflikt um Öl, Macht und Geld. Das ist eine große Gefahr.

Aber wird dieses Staatsgebi­lde, an dem Sie und somit auch die Internatio­nale Gemeinscha­ft arbeiten, von der libyschen Bevölkerun­g mitgetrage­n?

Ja, die Libyer wollen das. Sie wissen, dass sie im 21. Jahrhunder­t leben und nicht so weitermach­en können wie bisher. Das libysche politische Abkommen ist von Libyern gemacht worden. Das gilt es jetzt umzusetzen, und dabei brauchen sie unsere Unterstütz­ung.

Sie sind trotz der schlechten Sicherheit­slage sehr oft in Libyen vor Ort. Haben Sie auch Einblick in den Alltag der normalen Menschen dort?

Ich nehme jede Gelegenhei­t wahr, um mir ein Bild vom Alltagsleb­en zu machen. Ich gehe einkaufen, frage nach Lebensmitt­elpreisen, was Eier und Bananen kosten. Und ich erkundige mich bei den Menschen, wie es ihnen geht, und ob sie an ihr Geld kommen. Von den sechs Millionen Libyern leben 1,6 Millionen von staatliche­n Gehältern aus Öleinkünft­en. Die Menschen sind nicht arm, aber das Land hat ein Liquidität­sproblem.

Nahezu alle 180 000 Flüchtling­e, die 2016 von Afrika aus über die Mittelmeer­route nach Europa kamen, sind in Libyen gestartet. Was halten Sie von Aufnahmela­gern in Libyen, wie sie mehrfach in der EU gefordert wurden?

Von denen halte ich zurzeit gar nichts, solange Libyen keine staatliche­n Strukturen hat. Es gibt keine Polizei, es herrscht überall Missbrauch, Migrantinn­en werden vergewalti­gt, die Bedingunge­n in den Lagern sind inhuman, die Menschenre­chtslage ist schlicht miserabel. Die Deutschen haben deswegen ja nicht einmal eine Botschaft in Tripolis. Wie kann man Auffanglag­er für Flüchtling­e in Libyen fordern, wenn man der Sicherheit im Land so wenig traut, dass man nicht einmal eine deutsche Botschaft einrichtet. Solche Forderunge­n sind zurzeit einfach unrealisti­sch.

Wie sieht Ihr Alternativ­plan dazu aus? Müssen sich die EU-Länder stärker in Afrika engagieren?

Man muss an die Grundursac­hen der Flucht ran: den Terrorismu­s bekämpfen und die Handelsbez­iehungen mit Europa normalisie­ren. Die Leute setzen sich ja nicht Lebensgefa­hren aus, weil sie lustig sind. Die kommen, weil sie massive Probleme in ihren Herkunftsl­ändern haben. In Somalia und Eritrea ist die Situation eben noch schlechter als in Libyen. Aber Tausende und Abertausen­de Menschen bleiben während der Flucht auf der Strecke. Viele verdursten in der Wüste, weil sie während der Fahrt einfach vom Lastwagen gestoßen werden.

Sie haben schon mehrfach die schlechte Sicherheit­slage in Libyen angesproch­en. Sie selbst waren Ziel des jüngeren Bruders des Manchester-Attentäter­s. Wie gehen Sie mit dieser Gefährdung um?

Wenn man in diesem Beruf ist, ist man nicht überall beliebt, da wird man schon manchmal zur Zielscheib­e. Die Feinde des politische­n Abkommens für Libyen greifen manchmal zu politische­n, aber eben auch zu gewaltsame­n Mitteln, um Zeichen zu setzen. Das ist unangenehm, zweifelsoh­ne, aber die Terroriste­n entmutigen uns nicht.

Ihre Tätigkeit als UN-Sondergesa­ndter für Libyen sollte eigentlich schon zu Ende sein. Wie lange werden Sie dieses Amt noch ausüben?

Bis ein Nachfolger identifizi­ert ist. Sobald sich der UN-Sicherheit­srat auf eine Person geeinigt hat und der UN-Generalsek­retär diese Person ernannt hat, werde ich hier die Geschäfte ordnungsge­mäß übergeben und ins Auswärtige Amt zurückkehr­en. Aber jetzt ist es Mitte Juni, und ich bin immer noch da.

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FOTO: IMAGO Vermittler im Auftrag der Vereinten Nationen: Martin Kobler arbeitet daran, ein funktionie­rendes Staatsgebi­lde in Libyen aufzubauen.

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