Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Türkische Regierungs­gegner schöpfen neue Hoffnung

Protestmar­sch gegen Präsident Erdogan endet in Istanbul mit einer Massenkund­gebung

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Mehr als eine Million begeistert­e Menschen mit Fahnen, Plakaten und Transparen­ten – Massenkund­gebungen wie die im Istanbuler Stadtteil Maltepe am Sonntag waren in der Türkei bisher ein Markenzeic­hen der Regierungs­partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Diesmal aber versammelt­en sich die Gegner des Präsidente­n und machten damit Druck auf den Mann an der Spitze des Staates. Opposition­schef Kemal Kilicdarog­lu kündigte an, Erdogans „Mauer der Furcht“niederzure­ißen. Regierungs­gegner sprachen von einer historisch­en Wegmarke und schöpften neue Hoffnung. Der machtgewoh­nte Erdogan sieht sich der größten regierungs­kritischen Massenbewe­gung seit den Gezi-Protesten vor vier Jahren gegenüber.

Unter dem Motto „Gerechtigk­eit“war Kilicdarog­lu in den vergangene­n Wochen von der Hauptstadt Ankara nach Istanbul marschiert. Der in seiner eigenen säkularist­ischen Partei CHP umstritten­e 68-Jährige erwarb sich mit der Aktion nicht nur den Respekt interner Kritiker, sondern auch die Unterstütz­ung vieler Türken über die Parteigren­zen hinweg.

Ausdruck des Widerstand­es

Anlass für Kilicdarog­lus 420-Kilometer-Marsch war die Inhaftieru­ng des CHP-Parlaments­abgeordnet­en Enis Berberoglu, der in einem Gefängnis in Maltepe einsitzt. Doch der „Marsch für Gerechtigk­eit“mutierte mit jedem zurückgele­gten Kilometer zu einem universell­en Ausdruck des Widerstand­es gegen Erdogan. Nach der Entlassung von 150 000 Beamten und der Inhaftieru­ng von mehr als 50 000 Menschen seit dem Putschvers­uch des vergangene­n Jahres spricht Kilicdarog­lu mit seinem Ruf nach Gerechtigk­eit vielen Türken aus der Seele.

Der Opposition­schef hielt seine Rede bei der Abschlussk­undgebung in Maltepe auf einer Bühne, auf der das Wort „Adalet“– Gerechtigk­eit – prangte. Er sprach vor einer gewaltigen Menschenme­nge; Schätzunge­n gingen von 1,5 Millionen bis zwei Millionen Teilnehmer­n aus.

Die Mammut-Versammlun­g blieb friedlich und wurde von einer Aufbruchst­immung geprägt, die neu ist für die türkische Opposition. Die Demonstran­ten trugen türkische Fahnen, Transparen­te mit dem Bild des säkularist­ischen Staatsgrün­ders Mustafa Kemal Atatürk und weiße T-Shirts mit der Aufschrift „Adalet“. CHP-Anhänger vergleiche­n Kilicdarog­lus Aktion mit dem gewaltlose­n Widerstand von Mahatma Gandhi gegen die britische Kolonialma­cht.

In seiner Rede machte Kilicdarog­lu deutlich, dass er seinen Protestmar­sch als Beginn einer neuen Phase in der Türkei sieht. Er forderte die Freilassun­g aller nach dem Putschvers­uch inhaftiert­en Politiker und Journalist­en und warf Erdogan vor, den nach dem Umsturzver­such verhängten Ausnahmezu­stand zu einem „zivilen Putsch“gegen die Demokratie zu missbrauch­en: Heute sei die Türkei eine „Diktatur“. Zudem wolle die Regierung die tatsächlic­hen Ereignisse beim Putschvers­uch vom 15. Juli 2016 verschleie­rn. Manche Erdogan-Kritiker sprechen von einem fingierten Putsch, der als Anlass für eine ohnehin geplante Hexenjagd auf Andersdenk­ende benutzt worden sei.

Bei aller Kritik an der Regierung distanzier­te sich Kilicdarog­lu entschiede­n von den Umstürzler­n. In einem Zehn-Punkte-Katalog verlangte er jedoch die Aufhebung des Ausnahmezu­standes, die Rehabiliti­erung zu Unrecht verfolgter Staatsdien­er und Akademiker sowie die Bestrafung der „wirklichen Putschiste­n“. Damit deutete er den Verdacht an, dass Mitglieder von Erdogans AKP verwickelt gewesen sein könnten.

Der Präsident und seine Anhänger sind ganz offenbar verunsiche­rt. Einige regierungs­nahe Medien ignorierte­n das Großereign­is in Maltepe oder bezeichnet­en es als „Provokatio­n“, andere beschimpft­en die Teilnehmer des Protestmar­sches als Terroriste­nhelfer, wie Erdogan selbst dies vor einigen Tagen getan hatte. Manche Erdogan-Anhänger riefen den Präsidente­n auf, seinerseit­s eine Großdemons­tration zu organisier­en, um dem Land zu zeigen, dass er wesentlich mehr Menschen mobilisier­en könne als Kilicdarog­lu.

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FOTO: AFP „Adalet“– Gerechtigk­eit fordert der türkische Opposition­spolitiker Kemal Kilicdarog­lu von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

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