Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Opposition hat Potenzial
Auf eines konnte sich Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten fest verlassen: die Schwäche der Opposition. Die Regierungsgegner in Ankara machten es Erdogan leicht und präsentierten sich stets als uneins und unfähig – oft genug erweckten sie den Eindruck, als hätten sie sich mit ihrer Rolle abgefunden. Die Gezi-Protestbewegung des Jahres 2013 riss zwar Millionen von Türken mit, wurde aber nie in konkretes politisches Handeln übersetzt. Nun könnte Oppositionschef Kilicdaroglu dabei sein, Erdogans Glückssträhne zu beenden. Der Protestmarsch für Gerechtigkeit hat viele angesprochen, die eine Verwandlung ihres Landes in einen Erbhof von Erdogan und dessen Getreuen beklagen.
Der Zuspruch für den spröden Kilicdaroglu ist enorm und stellt Erdogan vor ernste Herausforderungen. Allerdings muss sich Kilicdaroglus Partei CHP, die bisher eine linksnationalistische Politik verfolgt, politisch öffnen, wenn sie den Schwung des Protestmarsches nutzen und bei den Wahlen in zwei Jahren eine Siegchance haben will. Insofern ist die Großdemonstration vom Sonntag eher ein Indikator für das Potenzial der Opposition als ein sicheres Vorzeichen für das Ende der Ära Erdogan.