Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Kanzleien bündeln ihre Kräfte gegen VW
Anwälte arbeiten nun europaweit gemeinsam an Schadenersatzklagen – Auch gegen Porsche-Mitarbeiter wird ermittelt
BERLIN - Der Druck auf VW steigt weiter. Erstmals schließen sich nun europaweit Anwälte zusammen. Sie wollen vom Konzern bisher verweigerte Schadenersatzansprüche durchsetzen. Auch durch Ermittlungsbehörden droht weiteres Ungemach. Der kürzlich verhaftete Audi-Abgasspezialist will vor der Staatsanwaltschaft aussagen. Nun gab die Stuttgarter Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie wegen Betrug und strafbarer Werbung auch gegen unbekannte Porsche-Mitarbeiter ermittelt.
Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum lässt am Umgang der aktuellen Bundesregierung mit dem VW-Skandal kein gutes Haar. „Die Politik hat versagt, aus Rücksicht auf die Automobilindustrie und deren Zulieferern“, kritisiert der Anwalt, dessen Kanzlei rund 2000 VW-Kunden vertritt. Insbesondere Justizminister Heiko Maas verärgert Baum. In dessen Haus liegt ein Gesetzentwurf zur Musterfeststellungsklage, der nicht mehr ins Parlament eingebracht wird. Dieses Klagerecht hätte dafür sorgen können, dass auch geschädigte deutsche VW-Kunden leicht ihr Recht durchsetzen könnten. Eine einzige Gerichtsentscheidung genügt dafür. So müsste jeder der rund 2,8 Millionen Besitzer eines Fahrzeugs mit manipulierter Abgasreinigung einzeln vor Gericht ziehen.
Verjährung droht
Freiwillig lenkt das Unternehmen nicht ein. „Volkswagen hat seine Strategie nicht verändert und spielt auf Zeit“, sagt Baum. Ende dieses Jahres läuft die Verjährungsfrist für Forderungen gegen die Händler aus, Ende nächsten Jahres die Frist für Klagen gegen den Hersteller. Deshalb macht Baums Kanzlei nun gemeinsam mit anderen Anwälten aus ganz Europa Dampf. Gemeinsam wollen sie VW dazu bringen, neben den amerikanischen Kunden auch die Käufer in der EU zu entschädigen. Baums Düsseldorfer Kanzlei hat sich mit den Berliner Rechtsanwälten Gansel, der österreichischen Plattform für Massenschäden, Cobin Claims sowie der niederländischen Stiftung „Stichting Volkswagen Car Claim“zusammengetan.
Die Rechtslage in den europäischen Ländern ist sehr unterschiedlich. So beträgt die Verjährungsfrist in Spanien 15 Jahre, in Deutschland nur drei. Große Hoffnungen setzen die Anwälte auf die Niederlande, wo sie im September eine Feststellungsklage für rund 180 000 Betroffene einreichen wollen. Sie richtet sich gegen VW, Händler, Importeure und den Zulieferer Bosch. „Es geht jetzt darum, Ansprüche zu sichern“, sagt Eric Breiteneder von der Stiftung Car Claim. Das Besondere: In Holland können betroffene Kunden aus anderen Ländern Ansprüche geltend machen. Rund 20 000 aus Deutschland haben sich bereits bei der Stiftung gemeldet. Auf über vier Milliarden Euro taxieren die Anwälte ihre Gesamtforderung.
Darüber hinaus will sich das Juristennetzwerk über die Landesgrenzen hinweg über neue Urteile oder Entwicklungen informieren oder Sachverständigengutachten austauschen. Auch eine neue Plattform für geschädigte Verbraucher wurde freigeschaltet. Auf der Webseite wurde eigens ein Zugang für Tippgeber aus dem Konzern eingerichtet. Die sogenannten Whistleblower können hier anonym zum Beispiel vertrauliche Unterlagen zum Abgasskandal hochladen oder ein vertrauliches Gespräch mit Baum suchen. „Die Sache spitzt sich zu“, sagt der Jurist. Denn auch die strafrechtlichen Entwicklungen beobachten die Rechtsanwälte genau. Die Verurteilung von Konzernbeschäftigten könne die Durchsetzung von zivilen Forderungen erleichtern, hoffen die Anwälte. Der in der vergangenen Woche festgenommen frühere Audi-Ingenieur will mit den Behörden zusammenarbeiten und hat eine Aussage angekündigt. Bis zu seiner Beurlaubung 2015 war er einer der führenden Motorenentwickler bei der Volkswagen-Tochter. Angeblich ist der Spezialist stark in die Abgasaffäre verwickelt. Auch in diesem Fall geht es um Betrug und unlautere Werbung. Mittlerweile sind bundesweit 40 Beschuldigte ins Visier der Ermittler geraten.
Seit dem Wochenende stellt sich zudem wieder die Frage, ob der damalige Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn frühzeitig von den technischen Manipulationen wusste. Dies legen Medienberichte über die Aussagen eines Kronzeugen des Skandals in den USA nahe. Winterkorn droht derzeit aber kein Haftbefehl. „Es hat sich für uns im Laufe der bisherigen Ermittlungen kein Haftgrund ergeben“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig.