Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
30,8 Prozent haben in ihrer Kindheit Gewalt erfahren
Obwohl Übergriffe gesellschaftlich weniger akzeptiert sind, ist die Zahl der getöteten Kinder 2016 gestiegen
BERLIN (dpa) - Obwohl Gewalt in der Kindererziehung gesellschaftlich immer weniger akzeptiert ist, sind Schläge und emotionale Übergriffe weiterhin Alltag. Die Zahl der Todesopfer unter 14 Jahren ist 2016 sogar gestiegen. Meist kommen die Täter aus der Familie. Die Deutsche Kinderhilfe stellte am Donnerstag gemeinsam mit Experten Zahlen zu Gewalt an Kindern vor.
Wie viele Deutsche haben in ihrer Kindheit Gewalt erfahren?
Knapp 30,8 Prozent der Bundesbürger geben an, in der Kindheit körperliche oder emotionale Gewalt erfahren zu haben, fast jeder siebte (13,9 Prozent) Deutsche ist demnach Opfer sexuellen Missbrauchs geworden. Das ergab eine repräsentative Umfrage unter etwa 2500 Bundesbürgern zwischen 14 und 94 Jahren, die Forscher der Universität Ulm im März vorstellten. Die Zahl der Todesopfer unter Kindern sei im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent gestiegen, auf 133, teilte die Deutsche Kinderhilfe am Donnerstag mit.
Wie akzeptiert sind Schläge heutzutage noch?
In der Nachkriegszeit waren Schläge in der Kindererziehung oft noch die Regel, seitdem wächst die Zahl derer, die körperliche Strafen ablehnen. Für die Mehrheit sind „ein Klaps auf den Po“oder eine Ohrfeige mittlerweile tabu, sagte der Ulmer Experte für Kindeswohlgefährdung, Jörg M. Fegert im vergangenen Jahr. In einer seiner Studien (2016) bewerteten 44,6 Prozent einen „Klaps auf den Po“als akzeptabel (2005: 76,2 Prozent); eine leichte Ohrfeige bewerteten 17 Prozent als in Ordnung (2005: 53,7 Prozent). Eine Tracht Prügel mit Blutergüssen oder das Schlagen mit einem Stock sahen 2016 nur noch 0,1 beziehungsweise 0,4 Prozent als vertretbar an (2005: jeweils 1,9 Prozent).
Wer ist am häufigsten betroffen?
Eine Studie der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung aus dem Jahr 2013 zeigt: Heranwachsende aus armen Familien seien am stärksten von körperlicher Gewalt betroffen. Sozial besser und durchschnittlich gestellte Kinder erfuhren demnach deutlich seltener Gewalt. Dem widerspricht die Professorin für Pädagogik an der Hochschule Koblenz, Kathinka Beckmann: Gewalt gegen Kinder gebe es entgegen der gängigen Vorurteile in Familien, die Hartz IV beziehen, genauso wie in Akademikerfamilien. Rund ein Viertel der Todesfälle unter Kindern gibt es im Zusammenhang mit Trennungen und Streit um Sorgerecht. Sinnvollste Gegenmaßnahme sei eine breit aufgestellte Kinderhilfe.
Wer sind die Täter?
Die Gewalttäter kommen großteils aus dem häuslichen Umfeld: Väter, Mütter, Onkel und Tanten, Freunde der Familie. Julia Weiler, Psychologin und Expertin für Cyber Crime und sexuelle Gewalt, meint: Ein Kind muss im Schnitt acht Erwachsene ansprechen, bevor ihm geglaubt wird. Ein Grund sei die noch immer vorherrschende Tabuisierung. Dass jemand aus dem eigenen Umfeld Täter sein könnte, sei ein „schwerer Gedanke“. Deshalb sei das Dunkelfeld der Betroffenen sehr groß.
Welche Rolle spielt das Internet?
Eine immer größere. Soziale Netzwerke haben Gewalt gegen Kinder fundamental verändert, sagt Weiler, insbesondere über das Smartphone seien Kinder und Jugendliche für Gewalttäter immer erreichbar. Sie forderte, schon den Versuch des sogenannten Cybergrooming – also das Ansprechen Minderjähriger im Netz mit dem Ziel sexueller Kontakte – unter Strafe zu stellen.
Welche Spätfolgen bewirken Gewalterfahrungen in der Kindheit?
Menschen, die Missbrauch oder Vernachlässigung erlitten, haben ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen sowie ein höheres Suizidrisiko. Deutlich häufiger als Menschen ohne Gewalterfahrung litten sie an Übergewicht, Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronischen Schmerzen, sagte Markus HuberLang, Chirurg am Zentrum für Traumaforschung der Universität Ulm im März 2017.