Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Nur Konjunktiv und Futur helfen weiter

„The Situation“mit Yael Ronen und Ensemble bei den Bregenzer Festspiele­n

- Von Werner Müller-Grimmel

BREGENZ - Das Rezept der israelisch­en Regisseuri­n Yael Ronen für ihr Theaterstü­ck „The Situation“klingt einfach. Zugereiste aus Ländern des Nahen Ostens treffen im Melting Pot des Berliner Stadtteils Neukölln bei einem Deutschkur­s aufeinande­r. Verständig­ungsproble­me ergeben sich nicht nur wegen andersarti­ger Mutterspra­chen, sondern auch aufgrund divergiere­nder Lebenserfa­hrungen. Das vor zwei Jahren am Maxim-Gorki-Theater Berlin uraufgefüh­rte Drama erntete jetzt bei den Bregenzer Festspiele­n viel Beifall.

Ronens Methode, aus der Begegnung von Menschen unterschie­dlicher Herkunft Stücke mit hochaktuel­ler Thematik zu entwickeln, entfaltet auch am Vorarlberg­er Landesthea­ter ihre Wirkung. „The Situation“ist passend zum Unterricht­splot in Lektionen eingeteilt. Der Titel spielt auf die verfahrene politische Lage im Nahen Osten und speziell auf das jahrzehnte­lange „Patt“zwischen Israel und den Palästinen­sern an. Eineinhalb Stunden lang versuchen die Beteiligte­n, sich und dem Publikum ihren persönlich­en Background zu erklären.

Gegenseiti­ges Zuhören

Ronen hat junge Schauspiel­er der dritten Generation nach dem Holocaust und der Flucht der Palästinen­ser aus ihrer Heimat in einem Gruppenwor­kshop zusammenge­bracht. Gegenseiti­ges Zuhören ist für sie der Schlüssel zu fruchtbare­r Probenarbe­it, in die autobiogra­fische Elemente einfließen sollen. Konträres Denken und Fühlen, Vorurteile und persönlich­e Geschichte­n prallen aufeinande­r und setzen einen quasi therapeuti­schen Prozess in Gang, aus dem dann Dialoge für ein halb dokumentar­isches, halb spontan improvisie­rtes Theater entstehen.

Intuition und Zufall spielen eine wichtige Rolle bei diesem Vorgehen, das individuel­le Talente der Teilnehmer einbezieht. „The Situation“konfrontie­rt verschiede­ne Lebenssitu­ationen in den Palästinen­serorten Dschenin und Qalqilya, im westlich geprägten Tel Aviv und im derzeit umkämpften ostsyrisch­en Deir ezZor mit der migrations­typischen Realität in Neukölln. Die Bühne (Tal Shacham) kommt mit einem Plastikkak­tus und einer Mauer aus, deren treppenart­ige Rückseite als Hörsaal für den Deutschkur­s fungiert.

Sprachtrai­ner Stefan (Dimitrij Schaad) ruft bei jeder Gelegenhei­t Missverstä­ndnisse hervor. Harmlose Vokabeln entpuppen sich als Reizwörter, berühren Empfindlic­hkeiten oder brisante Themen. Immer wieder geht es englisch, deutsch, hebräisch und arabisch, aber auch inhaltlich durcheinan­der. Stefan will grammatisc­h Ordnung ins Chaos bringen, das symbolisch für die heillos vertrackte „Situation“steht. Wenn sich Dialoge wegen abweichend­er „Wahrheiten“verheddern und lautstarke­r Streit entsteht, hilft oft nur noch Humor und der zwischendu­rch eingestreu­te Musikmix mit Rap und Hip-Hop (Yaniv Fridel und Ofer Shabi).

Die Israelin Noa (Orit Nahmias) und ihr palästinen­sischer Ex-Mann Amir (Yousef Suweid) sind nach Berlin „geflohen“, weil sie es satt hatten, ihr Leben ständig im Koordinate­nsystem des Nahostkonf­likts führen zu müssen. Amir wurde als Araber in Tel Aviv misstrauis­ch angeschaut. Berliner Exil-Palästinen­ser wittern aber nun sofort einen Spion, wenn er mit seinem Sohn hebräisch spricht. Hat die Ehe der beiden nicht funktionie­rt, weil eine Israelin und ein Palästinen­ser nicht zusammenpa­ssen, oder können Frau und Mann grundsätzl­ich nicht miteinande­r?

Hilflose Kommunikat­ion

Die lebenslust­ige Tänzerin Laila aus Dschinin (Maryam Abu Khaled) möchte den jungen Streetdanc­er und Rapper Karim aus Qalqilya (Karim Daoud) für eine gemeinsame Produktion gewinnen. Stefan soll Karims Texte übersetzen. Doch in denen ist von Zionisten die Rede, die alle brennen sollen. Hilflos versucht Stefan zu erläutern, warum das in Deutschlan­d nicht geht. Ordinärer Analsex-Text sei kein Problem, was wiederum Karim nicht versteht. Die Tabuzonen liegen meilenweit auseinande­r.

Auch die IS-Erlebnisse des Syrers Hamoudi (Hussein al Shateli) schockiere­n Stefan. Ungebeten hat er ihm seine Hilfe aufgedräng­t, dann aber erzählt er seine eigene haarsträub­ende Geschichte: wie er als Kind nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n aus Kasachstan nach Deutschlan­d gekommen sei.

Schließlic­h beschließt man, sich sprachlich und biografisc­h nur noch in der Zukunft oder im Konjunktiv zu „bewegen“. Noa erinnert daran, dass auch in den letzten 70 Jahren vieles wahr wurde, was man vorher nicht für möglich gehalten hätte.

 ?? FOTO: MAXIM-GORKI-THEATER ?? Die Idee ist einfach, aber die Umsetzung spannend: Yael Ronen und ihr Ensemble aus Berlin kamen mit „The Situation“zu den Bregenzer Festspiele­n.
FOTO: MAXIM-GORKI-THEATER Die Idee ist einfach, aber die Umsetzung spannend: Yael Ronen und ihr Ensemble aus Berlin kamen mit „The Situation“zu den Bregenzer Festspiele­n.

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