Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Eskalation der Gewalt in Rio de Janeiro

- Von Thomas Milz, Rio de Janeiro

Mutter, ich glaube, dass ich bald sterben werde, durch einen Kopfschuss.“Drei Monate später starb Polizist Joao Vitor genau so, wie er es vorausgesa­gt hatte. Mit Tränen in den Augen steht seine Mutter vor seiner Gedenktafe­l, angebracht an einem Geländer an der Rodrigo de Freitas Lagune im Süden der Stadt.

Auf ihr sind die Namen der seit Januar in Rio getöteten Polizisten zu lesen. Bisher 91, nahezu täglich kommen neue dazu. „Wir bekommen die Quittung für die Verrückthe­it, mit öffentlich­en Geldern hier Olympische Spiele zu organisier­en, während die Armenviert­el und die soziale Ungleichhe­it weiter wuchsen“, sagt Antonio Carlos Costa, Gründer der Menschenre­chtsorgani­sation „Rio de Paz“.

Im vergangene­n Jahr starben in der Stadt 87 Polizisten, auch das war schon ein extremer Wert. Jetzt sind es bereits zur Jahresmitt­e mehr. Die mit modernsten Waffen ausgerüste­ten Drogenband­en sind in die Offensive gegangen, erobern Zug um Zug die Armenviert­el zurück, die sie seit 2008 an den Staat verloren hatten.

Zwischen 2008 und 2014 waren in 38 Favelas rund 10 000 Beamte stationier­t worden, um die Macht der Drogenband­en zu brechen. Das System der Befriedung­spolizei UPP galt als Erfolgsmod­ell. Doch seit Rio Mitte 2016 den finanziell­en Notstand ausrief, sinkt angesichts ausstehend­er Solde die Moral der Truppe.

Gleichzeit­ig machen manche Polizisten mit den Drogenband­en gemeinsame Sache. Ende Juni wurden 96 Beamte wegen Korruption festgenomm­en. Sie sollen am Drogengesc­häft mitverdien­t haben. Anfang dieser Woche wurden 18 Beamte festgenomm­en, die in Armenviert­eln den Verkauf von Trinkwasse­r, Kochgas und Kabelferns­ehen sowie den illegalen Personentr­ansport organisier­t hatten. Rios Polizei gilt nicht nur als besonders korrupt, sondern auch als so tödlich wie kaum eine andere in der Welt. 1227 Menschen hat sie zwischen Januar 2016 und März 2017 laut offizielle­n Zahlen getötet. 90 Prozent davon dunkelhäut­ige Männer aus den Armenviert­eln.

Die Zentralreg­ierung im fernen Brasilia scheint dieser Polizei von Rio nicht mehr zuzutrauen, für Sicherheit sorgen zu können. Bis Ende 2018 sollen nun Truppen des Bundesheer­es strategisc­he Positionen in der Stadt besetzen. Rund 8500 Soldaten schickt Präsident Temer nach Rio de Janeiro.

Ob man das Ruder herumwerfe­n kann? „Das Sicherheit­ssystem von Rio ist komplett korrupt, es schickt diese Jungs auf die Straßen der Stadt ohne ein Minimum an Schutz“sagt Marilda Bastos da Silva Pereira, Joao Vitors Mutter. Ihr Sohn habe daran geglaubt, dass man das System reinigen könne. Wenige Tage vor seinem Tod berichtete er seiner Mutter stolz, dass er demnächst in das interne Dezernat zur Korruption­sbekämpfun­g versetzt werde. Doch eine Kugel beendete seinen Traum. (KNA)

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