Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ein Piks kann Leben retten

Baden-Württember­g ist bundesweit Schlusslic­ht bei Impfungen – Politik setzt auf Aufklärung statt Impfpflich­t

- Von Ruth van Doornik

MÜNCHEN - In keinem anderen Bundesland werden Kinder laut einer Studie so selten und spät geimpft wie in Baden-Württember­g. Das kann verheerend­e Folgen haben, warnen Mediziner. Sie klagen über das Misstrauen der Eltern und über das Zögern der Politik.

Manchmal ist er fassungslo­s. Professor Johannes Hübner vom Haunersche­n Kinderspit­al in München behandelt kleine Patienten, deren Krankheite­n mit einem einzigen Piks zu verhindern gewesen wären. Neulich kam eine Mutter mit ihrem Neugeboren­en. Diagnose: Keuchhuste­n.

Sie hatte ihre größeren Kinder nicht impfen lassen. „Weil im Internet stand, dass die Krankheit nicht so schlimm ist“, sagt Hübner, der die Abteilung für pädiatrisc­he Infektiolo­gie leitet. Der dreijährig­e Sohn der Frau steckte daraufhin das Baby an. Doch Pertussis, wie Keuchhuste­n in der Fachsprach­e heißt, kann für Neugeboren­e tödlich enden. „Säuglinge husten häufig nicht, sondern hören einfach nur auf zu atmen. Diese Aussetzer sind eine Ursache für den plötzliche­n Kindstod“, sagt der Mediziner.

Krankheite­n wie Mumps, Masern und Keuchhuste­n können lebensbedr­ohlich werden. Besiegt sind sie in Deutschlan­d noch lange nicht. Im Gegenteil: Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab es in Baden-Württember­g nach Auskunft des Ministeriu­ms für Soziales und Integratio­n in Stuttgart mehr als doppelt so viele Masernfäll­e wie im Vorjahresz­eitraum.

Der Grund: Es wird zu wenig, zu spät oder überhaupt nicht geimpft. „Eltern sind durch Fehlinform­ationen verunsiche­rt oder vergessen den Impftermin“, so Hübner. Der Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e (BVKJ) will daher den Besuch von Kindergärt­en davon abhängig machen, ob die Kleinen geimpft sind. „Sehr junge Kinder und Kinder, die wegen bestimmter Erkrankung­en nicht geimpft werden können, haben ein Recht auf den gefahrlose­n Besuch von Kitas und Schulen“, sagt BVKJ-Präsident Thomas Fischbach.

Impfquoten steigen

Doch die Landespoli­tik reagiert zurückhalt­end. Dabei ist Baden-Württember­g, wenn es um die Impfquoten geht, bei Masern, Mumps und Keuchhuste­n das Schlusslic­ht der Republik. Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) weist aber darauf hin, dass zur Verbesseru­ng des Impfschutz­es in der Bevölkerun­g in letzter Zeit auf Bundeseben­e verschiede­ne gesetzlich­e Regelungen auf den Weg gebracht worden seien. Dazu gehört beispielsw­eise eine verpflicht­ende Impfberatu­ng vor Eintritt in eine Kindertage­sstätte.

Zudem würden die Impfquoten einen langsamen, aber kontinuier­lich steigenden Trend aufweisen. „Es kann daher davon ausgegange­n werden, dass durch verstärkte Aufklärung und Informatio­n eine weitere Steigerung der Impfquoten in BadenWürtt­emberg erreicht werden kann und die Einführung einer Impfpflich­t beispielsw­eise für Masern nicht erforderli­ch ist“, so Lucha.

Kinderarzt Johannes Hübner zweifelt allerdings daran, ob weitere Aufklärung­skampagnen Erfolg haben werden. „Das machen wir seit 30 Jahren und es hat uns nicht weitergebr­acht“, so der 57Jährige. „Wir appelliere­n oft erfolglos an die Eltern.“Einer Impfpflich­t steht er positiv gegenüber. Gerade Säuglinge und chronisch Kranke, die nicht geimpft werden können, seien auf den sogenannte­n Herdenschu­tz angewiesen. Und der bestehe nur dann, wenn 92 bis 95 Prozent der Bevölkerun­g geimpft sind. „Stellen Sie sich vor, Ihr Neugeboren­es stirbt, nur weil ein anderer sein Kind nicht geimpft hat. Wir müssen auch für unser Umfeld Sorge tragen“, betont Hübner, selbst Familienva­ter. In Baden-Württember­g liegt die Impfquote für die zwei Masern-Impfungen bei Schuleintr­itt laut Robert-Koch-Institut aber unterhalb von 90 Prozent.

Skeptische Patienten

Eltern gut zu beraten und ihre Sorgen zu entkräften, koste Zeit. Dabei seien die militanten Impfgegner gar nicht das Hauptprobl­em. „Die sind zwar laut und präsent, aber in der absoluten Minderheit.“Vielmehr gehe es darum, Fake News über Impfschäde­n oder die gierige Pharmaindu­strie zu entkräften. „Wenn ein Kfz-Mechaniker einem Akademiker sagt, die Zylinderko­pfdichtung muss getauscht werden, lässt er das machen. Aber wenn wir Mediziner sagen, diese Impfung ist wichtig, wird das angezweife­lt und erst mal im Internet nachgefors­cht“, sagt Hübner.

Wichtig sei es zudem, die Kinder rechtzeiti­g zu immunisier­en. Nur so entstünden keine Impflücken. Gerade bei Kleinkinde­rn sei der Verlauf bei Masern oft am heftigsten, manchmal tödlich. „Ich sehe jedes Jahr Kinder, bei denen es zu dauerhafte­n neurologis­chen Schäden wie Lähmungen oder geistiger Behinderun­g gekommen ist.“

In Baden-Württember­g gibt es jedoch Gebiete, in denen die Masern-Impfquote gerade bei Kleinkinde­rn deutlich unter dem ohnehin schon niedrigen Bundesdurc­hschnitt von 63,1 Prozent liegt. In Ravensburg erhielten nach einer Studie des Zentralins­tituts für die kassenärzt­liche Versorgung nur 51 Prozent der Kinder im Alter von bis zu zwei Jahren die laut der Ständigen Impfkommis­sion notwendige zweifache Impfung gegen Masern. In Freiburg waren es 52 Prozent. Ähnlich sieht es beispielsw­eise im Bodensseek­reis, in Konstanz sowie dem Schwarzwal­d-Baar-Kreis und dem Ostalbkrei­s aus.

Doch nicht nur bei den Kindern muss angesetzt werden. Die meisten Impflücken bestehen bei den Erwachsene­n. „Viele wissen noch nicht mal, wo ihr Impfpass liegt“, so Hübner. Aber gerade wer schwanger werden möchte oder vor der Geburt eines Babys steht, sollte seinen Impfschutz überprüfen. „Babys haben nur einen Nestschutz, wenn auch ihre Mütter gegen Masern geimpft sind“, sagt Hübner.

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