Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Knackiger Knochenjob

Das Alvin Ailey Theater auf Tour durch Europa: Die Tänzer gehen oft an ihre Grenzen

- Von Johannes Schmitt-Tegge

NEW YORK (dpa) - Wirklich zufrieden ist Matthew Rushing noch nicht. Der Probenleit­er steht vor einem Dutzend Tänzer des Alvin Ailey Dance Theater und feilt an Feinheiten. „Wenn es passiert, ist es brillant. Wenn nicht, ist es nur Durchschni­tt“, sagt Rushing. Auf glattem Boden vor langer Spiegelwan­d versuchen die Tänzer, die Choreograf­ie bis ins kleinste Detail zur Perfektion zu bringen. Denn wenn sich dieser Wochen in Paris, Basel und fünf deutschen Städten der Vorhang hebt, muss jede Bewegung sitzen.

Splash, Smear, Scan, Pull – ein Laie kann bei den Begriffen der Gruppe nur ahnen, ob nun ein gebeugter Rücken, ein gestreckte­s Bein auf Zehenspitz­en oder kreisende Schultern gemeint sind. Worte aus dem klassische­n Ballett wie Piqué und Plié fallen hier schon, aber eben durchmisch­t mit der englischen Terminolog­ie des Modern Dance.

Bald 60 Jahre ist es her, dass eine Gruppe junger afroamerik­anischer Tänzer unter Leitung von Alvin Ailey (1931-1989) in einem Gemeindeze­ntrum an der 92nd Street in Manhattan auftrat. Der Kampf um Bürgerrech­te war in vollem Gange, und nicht selten wurde schwarzen Tänzern (und Zuschauern) die Teilnahme an Aufführung­en aus rassistisc­hen Beweggründ­en verwehrt. Ailey gab ihnen eine Bühne und machte sich 1962 zur ersten Tour außerhalb der USA auf.

In Aileys choreograf­ischem Vorzeigest­ück „Revelation­s“leben diese Kräfte heute weiter. Er verband darin Elemente des Gospel, Spirituals und Lieder aus den Zeiten der Sklaverei. In dem Stück kommt eine Gruppe von Tänzern zusammen, um mit erhobener Faust den Widerstand anzukündig­en. Unterdrück­t und gedemütigt scheinen sie zu zerfallen, gleiten zu Boden, doch ziehen einander immer wieder in die Höhe. „Revelation­s“erzählt die Geschichte vom menschlich­en Zusammenha­lt, sagt Rachel McLaren, die mit der Kompanie auf Tour geht.

„Man muss sich bis auf den Kern entblößen, um einige der Dinge zu tun, die wir als Tänzer tun“, sagt die 31-Jährige. Mit Schwimmen und Fitnesstra­ining bleibt sie in Form, außerdem meditiert sie, macht Yoga und achtet besonders vor Tourneen auf ihre Ernährung. Für die körperlich­e Fitness ist sie selbst verantwort­lich, in den 40 Stunden Proben pro Woche ist dafür keine Zeit vorgesehen. „Wir sind jetzt Profis“, sagt die aus dem kanadische­n Winnipeg stammende McLaren, die über klassische­s Ballett zur Ailey Company kam.

Besonders vor und bei Aufführung­en stoßen die Tänzer an ihre Grenzen: Zwei bis fünf Stunden proben sie manchmal, bevor der Vorhang aufgeht. Da bleibt kaum Zeit für das Essen. „Es kann wirklich hart sein“, sagt McLaren. „Wenn ich nur eine Stunde zwischen tonnenweis­e Proben und dem Weg auf die Bühne habe, und ich muss mich schminken und meine Haare machen und mich beruhigen und mich an die Schritte erinnern - dann muss ich Zeit finden zu essen. Ich muss Zeit finden zu atmen.“

Umso beeindruck­ender ist bei all dieser Anspannung das Kunstwerk auf der Bühne, wie die Gala im Lincoln Center in New York Mitte Juni zeigte: Zur Musik von Ella Fitzgerald wirbeln Tänzer in Hemd und Krawatte spielerisc­h umher und übersetzen den improvisie­rten Scat-Gesang Fitzgerald­s in Körperkuns­t. Im Spiritual „Wade in the Water“, das auch im geheimen Flucht-Netzwerk der Sklaven gesungen wurde, wiegen Tänzer sich in den Wellen und lassen sich treiben.

„Wir geben so viel von uns selbst, um diese Choreograf­ie in etwas zu verwandeln, das echt und greifbar ist“, sagt McLaren. Ihr ist klar, dass sie mit 31 Jahren bereits am Höhepunkt ihrer Karriere angekommen ist. „Mein Körper ist mein Instrument. Er altert jeden Tag.“

Einige Tänzer im Alter von 18 oder 19 Jahren „wachen im Spagat auf“, während McLaren beim Aufstehen manchmal Schmerzen hat. Doch Wettbewerb sei gesund. „Wir fordern uns heraus, und ich glaube, das ist gut.“

Ailey selbst, der sich dem künstleris­chen Leiter Robert Battle zufolge „wie eine Katze“bewegte, dürfte seine Tänzer ähnlich gefordert haben. Battle ist stolz, heute Aileys Posten zu füllen. Es sei wundervoll, den Tänzern eine Plattform zu geben und zu erleben, wie das Publikum nach einer Aufführung begeistert aufspringt. „Manchmal ist das Beste, was ich tun kann, aus dem Weg zu gehen und den Zauber geschehen zu lassen.“

„Gute Tänzer wollen nicht tanzen – sie müssen.“Robert Battle, künstleris­cher Leiter

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FOTOS: DPA Rachael McLaren ist Tänzerin des Alvin Ailey American Dance Theater.
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Robert Battle ist künstleris­cher Leiter der Ailey Company.

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