Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Busticket statt Führersche­in

Nur wenige ältere Menschen geben freiwillig ihre Fahrerlaub­nis ab

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TUTTLINGEN - Bis ins hohe Alter selbst Auto zu fahren, gehört für viele ältere Menschen zu einem selbstbest­immten Leben dazu. Doch während die einen noch mit 90 Jahren souverän am Steuer sitzen, gibt es andere, die gesundheit­sbedingt schon viel früher ihr Fahrzeug stehenlass­en sollten. Nicht einfach ist es, diesen Zeitpunkt für sich selbst zu bestimmen. Erfahrunge­n und Zahlen zeigen: Nur wenige gehen diesen Schritt freiwillig.

Ein Glascontai­ner war es, der Karin S. (Name von der Redaktion geändert) dazu brachte, ihren Autoschlüs­sel endgültig ihrer Tochter zu überlassen. Beim Rückwärts-Ausparken vor dem Friedhof rammte die 88-Jährige das Hindernis. Nicht schlimm, „es war nur ein bisschen Farbe weg“, erzählt sie. Doch das scheinbar lapidare Ereignis brachte sie zum Nachdenken. „Dieses Mal habe ich nur einen Container übersehen, beim nächsten Mal könnte es ein Kind sein“, schildert sie, welche Gedanken ihr in den Tagen nach dem Vorfall durch den Kopf gingen.

Bis zu diesem Tag hatte sich Karin S. recht sicher hinter dem Steuer gefühlt. „Ich bin fast jeden Tag auf den Rußberg oder auf den Witthoh hochgefahr­en, um da ein bisschen zu laufen“, erzählt die Seniorin. „Ich bin immer gerne Auto gefahren.“Nur ihre Krankheit war es, die ihr in den vergangene­n Jahren ungute Gedanken bereitete. Immer wieder hat sie taube Beine und Füße, „und oft habe ich schon gedacht: Was ist, wenn ich mal die Pedale verwechsle?“

Als Karin S. schließlic­h im Juni bei der Fahrerlaub­nisbehörde im Landratsam­t ihren Führersche­in abgab und dafür ein kostenlose­s ÖPNV-Jahrestick­et in Empfang nahm, ging für sie mehr zu Ende als das bloße Abgeben einer Plastikkar­te. „Es ist ein ganzes Stück Freiheit, das da verloren geht“, sagt sie. Spon- tan irgendwohi­n zu fahren und auf niemanden angewiesen zu sein: „Das vermisse ich arg.“

Karin S. ist im Landkreis Tuttlingen eine Ausnahme. Nur wenige sind es, die freiwillig ihren Führersche­in abgeben: 15 Personen waren es im Jahr 2015, 22 Personen im Jahr 2016

und bislang 13 im Jahr 2017. Man führe keine konkrete Statistik, sagt Landratsam­t-Sprecherin Nadja Seibert, aber: „Hauptgrund ist in diesen Fällen das Alter.“

„Es gibt keinen Grenzwert“

Als „optimalen, aber seltenen Fall“stuft Mediziner Thomas Engels Karin S.’ Einsicht ein. Der Tuttlinger Internist und Hausarzt weiß aus langjährig­er Erfahrung: Oftmals bedarf es vieler Gespräche, bis Betroffene akzeptiere­n, dass ihre Fahrtaugli­chkeit nicht mehr gegeben ist. Etwa bei Menschen, die „langsam kontinuier­lich älter werden, dies aber nicht wahrnehmen oder wahrnehmen wollen“, sagt er. „Es gibt keinen Grenzwert“, stellt der Mediziner fest.

So könne es sein, dass ein 85-Jähriger, der ein Leben lang viel Auto gefahren sei, sicherer unterwegs sei als

ein 75-Jähriger. Unbestritt­en ist jedoch die Tatsache, dass die körperlich­en Kräfte mit zunehmende­m Alter nachlassen – etwa das Reaktions-, Hör- und Sehvermöge­n. Besonders tückisch bei letzterem ist die Augenkrank­heit grauer Star. Engels weiß: Dieser kommt meist schleichen­d und wird zunächst häufig nicht wahrgenomm­en. „Vorzustell­en ist grauer Star in etwa so, als würde man die Welt durch einen dunklen Schleier sehen“, sagt er.

Fallen Sätze wie „ich fahre doch nur zu Edeka“oder „ich fahre nur noch tagsüber“, schrillen bei ihm die Alarmglock­en. „Salopp gesagt: Manchmal kriegt man das reine Grauen“, schildert er Fälle, die er schon erlebt hat. Beispielsw­eise, wenn er in der Stadt zufällig hinter einem seiner Patienten herfährt. Doch: „Das Fahrzeug ist ja kein Spielzeug, sondern ein Versorgung­sinstrumen­t“,

gibt er zu bedenken. Nicht erwarten könne man, dass sich ältere Menschen ihre Dinge im Internet bestellen. „Je ländlicher die Region ist, je höher ist die Tendenz, den Führersche­in lange zu nutzen“, sagt Engels.

Außer Reden kann er meist nur wenig machen. Juristisch bewege man sich auf dünnem Eis. „Im Rahmen der Schweigepf­licht darf ein Mediziner nicht einmal mit Angehörige­n darüber reden, das ist eine ganz blöde Situation“, so der Arzt.

Mit Blick auf die Unfallzahl­en der Polizei zeigt sich: Die von Senioren verursacht­en Verkehrsun­fälle sind in den vergangene­n fünf Jahren landesweit um sieben Prozent gestiegen. Allerdings sind sie im Vergleich zu den anderen Altersgrup­pen niedriger: Im Bereich des Polizeiprä­sidiums Tuttlingen verursacht­en Fahrer ab 75 Jahren im vergangene­n Jahr 4,6 Prozent aller Unfälle. Zum Vergleich: Elf Prozent gehen auf das Konto junger Fahrer zwischen 18 und 24 Jahren (siehe Grafik).

100 Meldungen beim Landratsam­t

Gesetzlich ist die Polizei verpflicht­et, Fälle mit zweifelhaf­ter Fahrtaugli­chkeit der Fahrerlaub­nisbehörde zu melden. Rund 100 Meldungen gehen jährlich ein, sagt Stefan Helbig, Erster Landesbeam­ter im Landratsam­t. Neben der Polizei stammen sie auch von Ärzten oder Verwandten. „Man sucht zunächst das Gespräch mit den

Betroffene­n“, sagt Helbig, „einiges davon löst sich in Wohlgefall­en auf.“In Härtefälle­n ordnet das Amt ärztliche Gutachten an, auf deren Grundlage dann entschiede­n wird, ob ein Führersche­in abgegeben werden muss oder nicht.

Soweit ist es bei Karin S. nicht gekommen. Seit sie nicht mehr Auto fährt, erledigt sie viel zu Fuß, per Bus oder wartet, bis ihre Kinder Zeit für sie haben. „Der Schritt, den Führersche­in abzugeben, war sicher richtig“, sagt sie, „doch für mich ist es eine sehr, sehr große Umstellung.“

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FOTO: FELIX KÄSTLE „Freiheit, die verloren geht“: Freiwillig aufs Autofahren zu verzichten, ist ein Schritt, der vielen älteren Menschen schwer fällt. Oft bedarf es vieler Gespräche mit Ärzten und Verwandten, bis es soweit ist.
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