Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Pro Tag schaffen die Tunnelbaue­r 7,20 Meter

SZ-Leser besichtige­n den Reutlinger Scheibengi­pfeltunnel – Verkehrsfr­eigabe ist für 27. Oktober geplant

- Von Michael Hescheler

REUTLINGEN - Während der Hauptverke­hrszeiten quälen sich die Autos mühsam durch Reutlingen. 24 Ampeln müssen in Richtung Metzingen passiert werden. Doch in weniger als drei Monaten gibt es eine schnellere Möglichkei­t, in Richtung Stuttgart zu gelangen. Die 3,1 Kilometer lange Umfahrung steht kurz vor der Fertigstel­lung. Zentrales Bauwerk der Umgehung ist der Scheibengi­pfeltunnel. 45 Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“haben ihn am Mittwochna­chmittag besichtigt.

Im Tunnel ist es so laut, dass die Besucher den Kopfhörer auf volle Lautstärke drehen müssen, damit sie Projektlei­ter Norbert Heinzelman­n verstehen. Er ist ein stattliche­r Mann, der über den Tunnel spricht wie über den Bau seines eigenen Einfamilie­nhauses. Warum es es laut ist? Die beiden sogenannte­n Axialventi­latoren werden getestet. Sie sollen im Brandfall den Rauch aus dem Tunnel drücken, denn bei einem Brand, erklärt der Projektlei­ter, „ist der Rauch das Gefährlich­ste“. Heinzelman­n sagt: „Es ist ewig schade, dass wir die Lüfter nicht sehen können.“Aber der Sog, den sie erzeugen, ist so stark, dass es für den Besuch zu gefährlich wäre. Ein Lüfter kostet so viel wie ein Einfamilie­nhaus, sagt Heinzelman­n, nämlich 330 000 Euro.

Der Projektlei­ter könnte zu fast jedem Bauteil im Tunnel eine Geschichte erzählen und deshalb vergisst er während seiner Führung den nahenden Feierabend. Der Rundgang, den er für die SZ-Leser vorbereite­t hat, dauert fast doppelt so lange als geplant. Doch niemand langweilt sich. „Ich fahre jetzt mit anderen Augen durch einen Tunnel“, sagt eine Frau. „Erst jetzt kann ich mir vorstellen, was für eine akribische Planung hinter so einem Bauwerk steckt“, sagt ein anderer Leser.

Die Bauzeit beträgt neun Jahre

Neun Jahre lang ist an der Reutlinger Ortsumfahr­ung gebaut worden. Der eigentlich­e Tunnelbau dauerte vier Jahre. Erst, als Heinzelman­n Bilder von den Mineuren zeigt, wird einem klar, mit welcher Ausdauer die Arbeiter und Planer zu Werke gingen. Für den Einsatz einer Tunnelbohr­maschine ist der Scheibengi­pfeltunnel zu kurz. 290 Meter Tunnel wurden in offener Bauweise, 1620 Meter auf bergmännis­che Art hergestell­t. Ursprüngli­ch sollten Bagger den Tunnel nach vorne treiben, doch die Maschinen kamen bei der Härte des Gesteins an ihre Grenzen. „Deshalb haben wir später nur noch gesprengt“, sagt Heinzelman­n.

Pro Sprengung betrug der Vortrieb 1,80 Meter. Um die Anwohner nachts nicht um den Schlaf zu bringen, wurde in dieser Zeit auf Sprengunge­n verzichtet. also kamen die Mineure pro Tag mit vier Sprengunge­n lediglich 7,20 Meter vorwärts. Apropos Anwohner: Oberhalb des Tunnels befinden sich Wohnhäuser. Die Sprengunge­n waren so heftig, dass den Anwohnern die Übernahme der Kosten für Übernachtu­ngen im Hotel angeboten wurden. Doch kaum jemand machte davon Gebrauch. Aus Angst, dass die Häuser Schaden nehmen könnten.

Das Problem waren nicht die befürchtet­en Setzungen. Sie lagen nach Angaben des Projektlei­ters unter den erwarteten drei Zentimeter­n. Das Problem waren vielmehr die

Tunnel in Reutlingen

Schäden, die direkt beim Sprengen entstanden: Zerbrochen­e Fliesen, Risse an Wänden, „sogar eine Salatschüs­sel haben wir einer Frau bezahlt“, sagt Heinzelman­n. Die Schäden an den Häusern beziffert Heinzelman­n auf etwa 400 000 Euro. Mit den meisten Anwohnern einigte sich das Regierungs­präsidium, drei Anwohner streiten noch vor Gericht.

Bei Baukosten für die Umfahrung in Höhe von 135 Millionen Euro kommt einem dieser Betrag wie Peanuts vor. Für den Tunnel wurden 70 Millionen Euro veranschla­gt, gekostet hat er tatsächlic­h 13 Millionen Euro mehr. Dieser Mehrpreis liegt überwiegen­d an dem während der Arbeiten ausgetrete­nen Methangas. Für den Projektlei­ter „die größte Herausford­erung während der Bauzeit“.

Das Angstszena­rio: Gas könnte sich so lange sammeln, dass es Explosione­n auslösen kann. Um die Baustelle zu sichern, wurde Luft in den Tunnel geblasen. Nach den Sprengunge­n musste außerdem gewartet werden, bis sich das Gas seinen Weg aus dem Tunnel gebahnt hatte. Einmal habe man Gas riechen können, „da habe ich die Mineure erstmals mit ernster Miene gesehen“, sagt Dieter Heinzelman­n.

Rettungsst­ollen ist Folge vom Brand des Mont-Blanc-Tunnels

Nach dem Brand im Mont-BlancTunne­l vor knapp 20 Jahren mit 39 Toten wurden auch in Deutschlan­d die Sicherheit­svorschrif­ten verschärft. Ursprüngli­ch war der Scheibengi­pfeltunnel ohne Rettungsst­ollen geplant. Jetzt gibt es eine zweite Röhre, durch die sich Menschen im Brandfall retten können.

Die Hauptröhre ist alle 240 Meter über einen Querschlag mit dem Rettungsst­ollen verbunden. Damit in den Rettungsst­ollen kein Rauch ziehen kann, ist der Luftdruck dort höher. Weil sich die Türen wegen des höheren Drucks nicht öffnen lassen, werden sie mit einem Motor angetriebe­n.

Die Rettungsfa­hrzeuge befahren den Tunnel im Brandfall durch die Hauptporta­le. Ende September wird es eine Brandübung geben, bei der der Ernstfall simuliert wird. „Die Verkehrsfr­eigabe ist nur möglich, wenn diese Übung funktionie­rt“, sagt der Projektlei­ter. Da er nicht damit rechnet, dass etwas schiefgeht, ist die Eröffnung auf den 27. Oktober terminiert. Geradeaus geht’s nach Sigmaringe­n: Dieses Hinweissch­ild muss noch postiert werden.

Ein Video zum Scheibengi­pfeltunnel gibt es auf unserer Homepage

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FOTOS: MICHAEL HESCHELER Die Einfahrt in den Tunnel von Süden her – im Hintergrun­d ist der Albtrauf zu erkennen.
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Die Ruhe vor dem Sturm: Ab 27. Oktober fahren die Autos.
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Rettung ins Freie: Hier endet der Notfallsto­llen.
 ??  ?? Gang durch den Notfallsto­llen: Projektlei­ter Dieter Heinzelman­n (in der orangefarb­enen Weste) weiß auf jede Frage eine Antwort.
Gang durch den Notfallsto­llen: Projektlei­ter Dieter Heinzelman­n (in der orangefarb­enen Weste) weiß auf jede Frage eine Antwort.
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Beton soweit das Auge reicht: der Notfallsto­llen.
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Diese Tür führt in den Notfallsto­llen.

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