Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Pro Tag schaffen die Tunnelbauer 7,20 Meter
SZ-Leser besichtigen den Reutlinger Scheibengipfeltunnel – Verkehrsfreigabe ist für 27. Oktober geplant
REUTLINGEN - Während der Hauptverkehrszeiten quälen sich die Autos mühsam durch Reutlingen. 24 Ampeln müssen in Richtung Metzingen passiert werden. Doch in weniger als drei Monaten gibt es eine schnellere Möglichkeit, in Richtung Stuttgart zu gelangen. Die 3,1 Kilometer lange Umfahrung steht kurz vor der Fertigstellung. Zentrales Bauwerk der Umgehung ist der Scheibengipfeltunnel. 45 Leser der „Schwäbischen Zeitung“haben ihn am Mittwochnachmittag besichtigt.
Im Tunnel ist es so laut, dass die Besucher den Kopfhörer auf volle Lautstärke drehen müssen, damit sie Projektleiter Norbert Heinzelmann verstehen. Er ist ein stattlicher Mann, der über den Tunnel spricht wie über den Bau seines eigenen Einfamilienhauses. Warum es es laut ist? Die beiden sogenannten Axialventilatoren werden getestet. Sie sollen im Brandfall den Rauch aus dem Tunnel drücken, denn bei einem Brand, erklärt der Projektleiter, „ist der Rauch das Gefährlichste“. Heinzelmann sagt: „Es ist ewig schade, dass wir die Lüfter nicht sehen können.“Aber der Sog, den sie erzeugen, ist so stark, dass es für den Besuch zu gefährlich wäre. Ein Lüfter kostet so viel wie ein Einfamilienhaus, sagt Heinzelmann, nämlich 330 000 Euro.
Der Projektleiter könnte zu fast jedem Bauteil im Tunnel eine Geschichte erzählen und deshalb vergisst er während seiner Führung den nahenden Feierabend. Der Rundgang, den er für die SZ-Leser vorbereitet hat, dauert fast doppelt so lange als geplant. Doch niemand langweilt sich. „Ich fahre jetzt mit anderen Augen durch einen Tunnel“, sagt eine Frau. „Erst jetzt kann ich mir vorstellen, was für eine akribische Planung hinter so einem Bauwerk steckt“, sagt ein anderer Leser.
Die Bauzeit beträgt neun Jahre
Neun Jahre lang ist an der Reutlinger Ortsumfahrung gebaut worden. Der eigentliche Tunnelbau dauerte vier Jahre. Erst, als Heinzelmann Bilder von den Mineuren zeigt, wird einem klar, mit welcher Ausdauer die Arbeiter und Planer zu Werke gingen. Für den Einsatz einer Tunnelbohrmaschine ist der Scheibengipfeltunnel zu kurz. 290 Meter Tunnel wurden in offener Bauweise, 1620 Meter auf bergmännische Art hergestellt. Ursprünglich sollten Bagger den Tunnel nach vorne treiben, doch die Maschinen kamen bei der Härte des Gesteins an ihre Grenzen. „Deshalb haben wir später nur noch gesprengt“, sagt Heinzelmann.
Pro Sprengung betrug der Vortrieb 1,80 Meter. Um die Anwohner nachts nicht um den Schlaf zu bringen, wurde in dieser Zeit auf Sprengungen verzichtet. also kamen die Mineure pro Tag mit vier Sprengungen lediglich 7,20 Meter vorwärts. Apropos Anwohner: Oberhalb des Tunnels befinden sich Wohnhäuser. Die Sprengungen waren so heftig, dass den Anwohnern die Übernahme der Kosten für Übernachtungen im Hotel angeboten wurden. Doch kaum jemand machte davon Gebrauch. Aus Angst, dass die Häuser Schaden nehmen könnten.
Das Problem waren nicht die befürchteten Setzungen. Sie lagen nach Angaben des Projektleiters unter den erwarteten drei Zentimetern. Das Problem waren vielmehr die
Tunnel in Reutlingen
Schäden, die direkt beim Sprengen entstanden: Zerbrochene Fliesen, Risse an Wänden, „sogar eine Salatschüssel haben wir einer Frau bezahlt“, sagt Heinzelmann. Die Schäden an den Häusern beziffert Heinzelmann auf etwa 400 000 Euro. Mit den meisten Anwohnern einigte sich das Regierungspräsidium, drei Anwohner streiten noch vor Gericht.
Bei Baukosten für die Umfahrung in Höhe von 135 Millionen Euro kommt einem dieser Betrag wie Peanuts vor. Für den Tunnel wurden 70 Millionen Euro veranschlagt, gekostet hat er tatsächlich 13 Millionen Euro mehr. Dieser Mehrpreis liegt überwiegend an dem während der Arbeiten ausgetretenen Methangas. Für den Projektleiter „die größte Herausforderung während der Bauzeit“.
Das Angstszenario: Gas könnte sich so lange sammeln, dass es Explosionen auslösen kann. Um die Baustelle zu sichern, wurde Luft in den Tunnel geblasen. Nach den Sprengungen musste außerdem gewartet werden, bis sich das Gas seinen Weg aus dem Tunnel gebahnt hatte. Einmal habe man Gas riechen können, „da habe ich die Mineure erstmals mit ernster Miene gesehen“, sagt Dieter Heinzelmann.
Rettungsstollen ist Folge vom Brand des Mont-Blanc-Tunnels
Nach dem Brand im Mont-BlancTunnel vor knapp 20 Jahren mit 39 Toten wurden auch in Deutschland die Sicherheitsvorschriften verschärft. Ursprünglich war der Scheibengipfeltunnel ohne Rettungsstollen geplant. Jetzt gibt es eine zweite Röhre, durch die sich Menschen im Brandfall retten können.
Die Hauptröhre ist alle 240 Meter über einen Querschlag mit dem Rettungsstollen verbunden. Damit in den Rettungsstollen kein Rauch ziehen kann, ist der Luftdruck dort höher. Weil sich die Türen wegen des höheren Drucks nicht öffnen lassen, werden sie mit einem Motor angetrieben.
Die Rettungsfahrzeuge befahren den Tunnel im Brandfall durch die Hauptportale. Ende September wird es eine Brandübung geben, bei der der Ernstfall simuliert wird. „Die Verkehrsfreigabe ist nur möglich, wenn diese Übung funktioniert“, sagt der Projektleiter. Da er nicht damit rechnet, dass etwas schiefgeht, ist die Eröffnung auf den 27. Oktober terminiert. Geradeaus geht’s nach Sigmaringen: Dieses Hinweisschild muss noch postiert werden.
Ein Video zum Scheibengipfeltunnel gibt es auf unserer Homepage