Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Spielszenen sind manchmal nicht ganz stimmig
Die Arte-Produktion von „Sigmaringen, Hauptstadt Frankreichs“überzeugt nur teilweise
SIGMARINGEN - Die große Dokumentation über „Sigmaringen, Hauptstadt Frankreichs“(im französischen Original Sigmaringen, Le dernier refuge“, der letzte Fluchtort) hat viele Erwartungen geweckt, jedoch nicht alle erfüllt. Das Werk behandelt die Monate der französischen Vichy-Regierung, die mit Hitler zusammengearbeitet hat, im Sigmaringer Schloss. Die Verknüpfung zwischen nachgestellten Spielszenen und Dokumentarmaterial funktionierte nicht immer reibungslos. Für Kenner der Materie war es eine interessante Zusammenstellung, in der allerdings einige kleine Details fehlten. Wer sich nicht auskannte, tat sich schwer mit den verschiedenen Figuren und den vielen französischen Namen.
Vielleicht wäre – ungeachtet der dadurch entstehenden Kosten – eine komplette Trennung von Dokumentation und Spielfilm erhellender gewesen. Selbst in Frankreich ist kaum jemand mit den Vorgängen in Sigmaringen vertraut, nur zu gerne verdrängte man Vorgänge und Personen und konzentrierte sich auf die Widerstandskämpfer der Résistance. Insofern ist ist der Beitrag verdienstvoll, indem er ein breiteres Publikum auf diese kuriose Episode der Verbindung von Frankreich und Sigmaringen hinweist.
Die Spielszenen sind um eine Nebenfigur des Geschehens, den jungen Arzt Gérard-Trinité Schillemans (Pierre Hancisse) gruppiert. Schillemans, der im Film nicht namentlich genannt wird, ist aus dem Kriegsgefangenenlager der Deutschen nach Sigmaringen beordert worden, um sich dort um das Staatsoberhaupt, Marschall Philippe Pétain, zu kümmern, dessen Leibarzt Bernard Ménétrel von der geheimen Staatspolizei als unsicheres Element verhaftet Jacqueline (Julie Debazac) ist die Sekretärin von Fernand de Brinon. Sie ist womöglich eine Spionin der Alliierten im Sigmaringer Schloss, heißt es in der Dokumentation. wurde. Ursprünglich sollte dieser durch den Arzt und Schriftsteller Ferdinand Céline, der in der Dokumentation gar nicht vorkommt, ersetzt werden, was der Marschall aber ablehnte. Aber auch Schillemans kommt nicht zum medizinischen Einsatz: Pétain, der sich als Gefangener der Deutschen versteht, verweigert sich.
Ein stummer Oberstabsarzt
Der alte Arzt (Hans Joachim Hader), der sich sprachlos erinnert, stellt den Zuschauer vor die erste Frage: Warum spricht er nicht wenigstens ein paar einleitende Worte? Weil er zur Zeit der Darstellung mindestens 100 Jahre alt gewesen wäre? Die Einführung ist überflüssig und verwirrt nur. Der Oberstabsarzt Schillemans irrt also sprachlos durch Schloss Sigmaringen. Was der Zuschauer erfahren soll, wird durch die Sekretärin des Präsidenten der Vichy-Exilregierung, Fernand de Brinon (Christophe Odent), Jacqueline (Julie Debazac), vermittelt. Sie spricht manchmal unmotiviert die Zuschauer direkt an. Sie informiert neben dem berüchtigten Chef der Miliz, Joseph Darnand (Bernard Blancan), den Arzt von den Intrigen im Sigmaringer Schloss.
Bis auf ein Zitat („Wenn du zu weit gegangen bist, gehe bis zum Ende“) kommt Jacques Doriot, der Chef der faschistischen Parti populaire français, der auf der Fahrt von Konstanz nach Sigmaringen von einem Tiefflieger getötet wurde, nur als aufgebahrter Sarg vor. Hier und da wird die Dokumentation etwas melodramatisch. Die Dämmerungsbilder von Schloss Sigmaringen sprechen eine deutliche Sprache. Der extrem maliziöse Darnand und der diabolische Propagandamann Jean Luchaire (Thomas Chabrol) wirken fast karikaturistisch. Am Ende steht natürlich die panische Flucht der Kollaborateure aus Sigmaringen.
Besonders interessant sind viele bislang unbekannte Filmaufnahmen aus den Archiven und die Einordnung des Geschehens in das Geschehen außerhalb des Schlosses, wie zum Beispiel die irrationalen Hoffnungen auf einen Erfolg der Ardennenoffensive im Winter 1944, denen dann eine groteske Silvesterfeier gegenüber gestellt wird. Insgesamt bietet der Film etliche aufschlussreiche Informationen, die auf jeden Fall eine weitere Vertiefung reizvoll machen. Verwiesen sei hier auf den Aufsatz von Otto H. Becker in der Zeitschrift des hohenzollerischen Geschichtsvereins 2011/2012. Becker erscheint in der Dokumentation ebenfalls als einer der historischen Experten. Auch Fürst Karl Friedrich von Hohenzollern kommt zu Wort, dessen Großeltern und Vater von den Nationalsozialisten von ihrem Schloss vertrieben wurden, um dort Platz für die Franzosen zu machen.