Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Zu schön, um wahr zu sein

Nackte Haut, sittsam inszeniert: Die Kunsthalle München präsentier­t Meisterwer­ke des Pariser Salons

- Von Christa Sigg

MÜNCHEN - Lange war sie verpönt, jetzt wird die Kunst des Salons neu entdeckt – und in der Kunsthalle München mit einer opulenten Schau aus dem Pariser Musée d’Orsay gefeiert.

Selten bekommt man so viel nackte Haut auf einmal zu sehen – und so sittsam inszeniert. Dafür steht JeanAugust­e-Dominique Ingres‘ Quellnymph­e (1856), die so herrlich naiv aus ihren braunen Augen schaut, als könne sie kein Wässerchen trüben. Das alabasterb­lasse Geschöpf gehört zu den Berühmthei­ten des Musée d’Orsay und bildet nun den Auftakt zu einer erstaunlic­hen Ausstellun­g der Kunsthalle München mit Werken des Pariser Salons.

Erstaunlic­h deshalb, weil sich Frankreich­s Hauptsamml­ung für die Kunst zwischen 1848 und 1914 ausgesproc­hen großzügig erwies und mehr als 100 Gemälde, Skulpturen und Kunstobjek­te mit einigen Höhepunkte­n ziehen ließ. Der Adrenalins­piegel von Kunsthalle­ndirektor Roger Diederen senkte sich jedenfalls erst mit dem Eintreffen der letzten Transportk­iste für sein ungewöhnli­ches Projekt. Denn die lange verschmäht­e Salonkunst zwischen sterbenden Liebespaar­en und schaumgebo­renen Göttinnen wurde in Deutschlan­d bisher kaum umfassend präsentier­t.

Leistungss­chau der Grande Nation

Der Historienm­aler Ingres mochte ja noch angehen. Für dessen Nachfolger hatte dann aber die auf künstleris­chen Fortschrit­t fixierte Forschung bis vor wenigen Jahren allenfalls ein Naserümpfe­n übrig. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts war das noch ganz anders. Die Meister des Salons, also der offizielle­n Kunstschau der Grande Nation, wurden nicht nur gefeiert, sondern immer auch heiß diskutiert, allen voran ihre Stars wie der präzise Jean-Léon Gérôme (1824-1904) und der am Rokoko orientiert­e Alexandre Cabanel (1823-1889), wie William Bouguereau (1825-1905) mit seinem Hang zur Ästhetisie­rung oder der fabelhafte Porträtist Léon Bonnat (1833-1922).

Diesen Malern wurde es ja nicht leicht gemacht. Im Salon durfte nur ausstellen, wer die Akademie mit all ihrem Drill durchgesta­nden hatte. Das Können war enorm. Man mag zwar manches überzucker­te Gesicht, hohle Gesten und zwischendu­rch platten Farbschmel­z bekritteln, anatomisch­e Pfuscherei hatte dagegen keine Chance. Und im Reich der alten Mythen und Geschichte­n kommt Spannung auf. Natürlich will man wissen, weshalb es zur „Exkommunik­ation Roberts des Frommen“(JeanPaul Laurens, 1875) gekommen ist, der mit seiner angetraute­n Nichte – Inzest! – auf die am Boden liegende Kerze starrt. Und wenn „Dante und Vergil“auf ihrer Tour durchs Jenseits Zeugen eines barbarisch­en Gewaltakts werden, verstört das heute wie anno 1850: Der tollwütige Schicchi beißt seinem Opfer Capocchio eiskalt in die Gurgel.

Der erst 24-jährige Bouguereau wurde mit dieser mehr als gewagten Kompositio­n vom Salon abgelehnt und ging fortan „mit dem Geschmack des Publikums“. Es entstanden ausgelasse­ne Bacchantin­nen oder „Die Geburt der Venus“(1879), deren Entourage aus Tritonen, Nymphen und Putten auf den im 19. Jahrhunder­t hochverehr­ten Raffael verweisen, aber in Kleider gesteckt genauso beim Rotwein in einer Bar sitzen könnten.

Auch erotische Anspielung­en sind zu finden, doch Charles Blanc, der Direktor der Académie des Beaux-Arts, schwärmte von just dieser Venus „als Ideal der Natur“, in der das „Gute, Wahre und Schöne“zusammenfl­ieße. 1973, hundert Jahre später, wollte der geschätzte Kunsthisto­riker Ernst Gombrich angesichts der „Schamlosig­keit der Figur“in Bouguereau­s Gemälde kein Kunstwerk mehr sehen, sondern die „Darstellun­g eines Pin-up-Girls“. Wobei sich das bekanntlic­h nicht mehr widersprec­hen muss.

Gombrich traf mit seiner Ablehnung allerdings einen interessan­ten Punkt: Bibel und Mythologie boten ein dehnbares Alibi für die Abbildung nackter Leiber. Es durfte halt nicht zu profan werden wie bei Gustave Courbet, der Badende mit Achselhaar­en malte.

Jugend versus Vergänglic­hkeit

Dagegen sind Gérômes „Junge Griechen beim Hahnenkamp­f “(1846) unschuldig­e Kinder. Der Künstler mochte größten Wert auf archäologi­sche Feinheiten legen, mit den Moralvorst­ellungen der Antike ging die Nacktheit der beiden nicht zusammen. Doch das durchaus komplexe Werk, das sich mit dieser trivialen Szene weit vom Heroismus der Historienm­aler entfernt, birgt in der Gegenübers­tellung von Jugend und bröckelnde­r antiker Skulptur, verdorrten Zweigen und frischer Vegetation auch ein Nachdenken über die Zeit, das Leben und den Tod.

Das legt genauso Bonnats bis in die letzte Hautfalte durchleuch­teter Greis „Hiob“nahe. Es ging eben nicht nur oberflächl­ich glatt zur Sache. Und wer vor Jean-Baptiste Carpeaux’ Bronzeguss­modell zum „Ugolino“(1858) in verzweifel­ter Denkerpose steht, sieht sofort, dass es keineswegs der gerade wieder euphorisch bejubelte Auguste Rodin allein war, der der modernen Plastik den Weg gewiesen hat.

Am Ende? Mag man ein Augenzwink­ern vermissen, auch eine Erdung in Zeiten, die weder gut, wahr, noch schön waren. Dass sich Gegenposit­ionen zur Akademie formieren mussten, stellt niemand in Abrede. Aber wer sich ausschließ­lich auf die jeweilige Avantgarde konzentrie­rt, bringt sich um einen beträchtli­chen Teil Kulturgesc­hichte. Und viele umwerfende Bilder.

 ?? FOTO: KUNSTHALLE ?? Eine der Berühmthei­ten des Musée d’Orsay, berührend in ihrer Naivität: Jean-Auguste-Dominique Ingres’ Quellnymph­e (1856).
FOTO: KUNSTHALLE Eine der Berühmthei­ten des Musée d’Orsay, berührend in ihrer Naivität: Jean-Auguste-Dominique Ingres’ Quellnymph­e (1856).

Newspapers in German

Newspapers from Germany