Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Stuttgart 21 wird wohl eine weitere Milliarde teurer
Bahnprojekt soll 7,6 Milliarden Euro kosten – Kretschmann: „Das Land zahlt nicht mehr“
STUTTGART/BERLIN - Das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 soll gut eine Milliarde Euro teurer werden als bisher geplant. Die Deutsche Bahn erwartet nun einen Kostenrahmen von 7,6 Milliarden Euro, wie am Mittwoch aus Aufsichtsratskreisen bekannt wurde. Als Gründe wurden unter anderem gestiegene Baukosten, Verzögerungen in den Planungsverfahren und die restriktiven Regeln beim Artenschutz genannt. Bislang waren 6,5 Milliarden Euro vorgesehen. Zugleich verzögere sich die Fertigstellung des umstrittenen Projekts voraussichtlich auf Ende 2024.
Der neue Zeit- und Kostenplan soll auf einer Sondersitzung des Aufsichtsrats Ende Januar beschlossen werden. Bis zuletzt hatte das Staatsunternehmen Deutsche Bahn immer erklärt, dass es an dem Ziel festhalte, Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm im Dezember 2021 in Betrieb zu nehmen. Ein Bahnsprecher wollte zu den neuen Zahlen keine Stellung nehmen.
Bereits Ende 2016 hatte die Bahn im Streit um Mehrkosten Klage gegen das Land Baden-Württemberg eingereicht. Das Land bleibt jedoch weiter bei seiner Linie. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte am Mittwoch im SWR: „Was immer an Zahlen auch rauskommen mag, klar ist, das Land zahlt die vereinbarten 930 Millionen und nicht mehr.“Für zusätzliche Mittel seien allein Bahn und Bund verantwortlich. Auch Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) betonte, die Stadt bleibe bei ihrer Beteiligung von 300 Millionen Euro.
Die SPD im Bund forderte von der Bahn Aufklärung. Konzernchef Richard Lutz müsse nun erklären, „woher plötzlich die neuen Kostensteigerungen und die Verzögerung beim Bau kommen und ob dadurch andere Projekte in Deutschland später gebaut werden“, sagte der SPD-Verkehrsexperte Sören Bartol.
Anton Hofreiter (Grüne) forderte die Bundesregierung auf, den Bundestag über die Kosten und den Zeitrahmen von Stuttgart 21 zu informieren. „Wir brauchen endlich ungeschönte Zahlen auf dem Tisch statt weiterer Salami-Taktik. Als Eigentümerin des Bahn-Konzerns muss die Bundesregierung das Parlament schnell und umfassend über den Kosten- und Zeitrahmen aufklären“, sagte der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der „Schwäbischen Zeitung“. „Stuttgart 21 ist längst das nächste verschleppte Milliardengrab.“Auch könnten die Kosten weiter steigen. „Es gibt Befürchtungen, dass die Endkosten an zehn Milliarden Euro heranreichen können. Das Missmanagement muss ein Ende haben“, so Hofreiter.
STUTTGART/BERLIN (dpa) - Das Großprojekt Stuttgart 21 ist seit Jahren umkämpft – nun gibt es neuen Ärger. Das Bauvorhaben wird noch mal gut eine Milliarde Euro teurer. Die Bahn rechnet nach Informationen aus Aufsichtsratskreisen nun mit einem Kostenrahmen von 7,6 Milliarden Euro. Außerdem verzögert sich das Vorhaben und soll erst Ende 2024 fertig werden. Roland Böhm, Bettina Grachtrup und Julia Kilian beantworten die wichtigsten Fragen.
Warum wird das Bahnprojekt teurer?
Offiziell hat sich die Bahn nicht dazu geäußert. Aus Kreisen des Aufsichtsrats werden jedoch etwa gestiegene Baukosten genannt, Verzögerungen in den Planungsverfahren und strenge Vorschriften des Artenschutzes für Eidechsen und Käfer. Diese Gründe wurden schon vor vier Jahren aufgezählt, als der Kostenrahmen um zwei Milliarden Euro erhöht wurde. Die Bahn wollte gegensteuern, um Kosten und Zeitplan im Griff zu halten, das hat offenkundig nicht geklappt. Kritiker halten schon lange Kosten von bis zu zehn Milliarden Euro für möglich.
Wer kommt für die Mehrkosten auf?
Schwierige Frage, denn darüber wurde schon vor den neuen Nachrichten gestritten. Ein Knackpunkt ist ein Passus im Finanzierungsvertrag: Die sogenannte Sprechklausel sagt, dass im Fall weiterer Kostensteigerungen die Eisenbahnunternehmen und das Land „Gespräche“aufnehmen. Aus Sicht der Bahn ist auch eine finanzielle Mehrbeteiligung vor allem des Landes und der Stadt Stuttgart gemeint. Die Projektpartner pochen allerdings darauf, dass die Klausel lediglich zum Sprechen auffordert.
Wie soll der Streit gelöst werden?
Die Bahn setzt auf die Justiz. Ende 2016 reichte der Konzern Klage gegen das Land Baden-Württemberg ein. Er will damit nach eigenen Angaben verhindern, dass mögliche finanzielle Ansprüche auf eine Beteiligung der Partner an den Mehrausgaben verjähren. Der Ausgang des Verfahrens ist offen, einen Verhandlungstermin gibt es noch nicht. Baden-Württemberg will nicht mehr als die vereinbarten 930 Millionen Euro zahlen. Auch der Flughafen Stuttgart als ein weiterer Partner lehnt eine Beteiligung an Zusatzkosten ab.
Was bedeutet die Verzögerung für Reisende und Stuttgarter?
Alle müssen noch länger eine Baustelle ertragen. Zudem wurden die Gleise für die Bauarbeiten nach hinten verlegt. Man muss also länger im Bahnhof laufen, um zu den Zügen zu kommen.
Was macht die Bauarbeiten kompliziert?
Die Bahn hat die Verzögerungen unter anderem mit aufwendigen Planänderungen für die Entrauchung des Tiefbahnhofs und mit dem schwierigen Tunnelbau im wasserempfindlichen Gestein Anhydrit erklärt.
Wie belastbar ist das Argument mit dem Artenschutz?
Erklärt die Bahn den Zeitverzug, verweist sie gerne auch darauf. Tatsächlich müssen an mehreren Stellen entlang der Strecke Richtung Ulm und in Stuttgart Tausende streng geschützte Eidechsen umgesiedelt werden. 15 Millionen Euro hat die Bahn dafür eingeplant. In einigen schwierigen Fällen errechnete das Unternehmen Kosten von bis zu 8599 Euro – pro Tier wohlgemerkt. Nicht das Einfangen mache das Ganze so teuer und zeitaufwendig, so die Bahn, sondern auch Planung, Beobachtung, Vertreibung sowie Beschaffung neuer Lebensräume. Andernorts muss Rücksicht auf den geschützten Juchtenkäfer genommen werden.
Was sagt die Bevölkerung zu dem Großprojekt?
Zehntausende protestierten gegen das Vorhaben, letztlich sprachen sich aber viele Baden-Württemberger 2011 für das Projekt aus. Bei einem Volksentscheid stimmte die Mehrheit gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung – und damit für Stuttgart 21.