Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Wohlklingendes Erbe der Weltkultur
Die Gabler-Orgel der Basilika in Weingarten beeindruckt – Was sie jedoch besonders macht, bleibt auf den ersten Blick verborgen
50 000 Orgeln – hier die berühmte Gabler-Orgel in der Basilika in Weingarten (Foto: Roland Rasemann) – stehen in deutschen Kirchen, 400 Orgelbau-Betriebe beschäftigen mehr als 2500 Menschen, Tausende arbeiten als Kirchenmusiker. Sie alle werden Träger des Immateriellen Kulturerbes der Unesco. Die deutsche Tradition des Orgelbaus wird nun in die Liste der Weltkulturorganisation aufgenommen.
WEINGARTEN - Organist Stephan Debeur legt die Finger auf die Klaviatur und setzt zum ersten Ton an. Für einen kurzen Moment ist alles still. Auf bloßen Tastendruck Debeurs hin strömt über Windkanäle, Wellenbretter und Umlenkwinkel Luft in die Orgelpfeifen. Wie in einem feinen Nervensystem. Dann erklingt die Orgel der Basilika St. Martin in Weingarten. Joseph Gabler, ein Zimmermann aus Ochsenhausen, hat die Orgel im 18. Jahrhundert gebaut. Sie gilt als eines der schönsten und bedeutendsten Musikinstrumente des Barocks und hat die Jahrhunderte nahezu unbeschadet überstanden. Handgefertigte Schrauben, Pfeifen und Windkanäle: Mehr als 90 Prozent der Orgel sind noch im Originalzustand.
Manche sagen, es sei der große Respekt vor dem Instrument gewesen, der es vor größeren Eingriffen geschützt habe. „Oder es war einfach Glück“, sagt Stephan Debeur. In einem aber sind sich Orgelkenner einig: Es ist ein Werk, so genial wie sagenumwoben. Gablers technisches Können, sein künstlerisches Wollen, aber auch sein mystisches Denken haben die Orgel zu etwas Besonderem gemacht. Dunkle Gerüchte und geheimnisvolle Geschichten kursieren schon seit der Fertigstellung im Jahr 1750 um das Instrument und seinen Erbauer. Stephan Debeur, der seit 2000 der Organist der GablerOrgel ist, kennt sein Instrument inund auswendig und kann fast alle dieser Geschichten erzählen. „Es stimmt schon“, sagt er, „was die Orgel wirklich besonders macht, ist nach außen gar nicht sichtbar.“
Die Weingartener Orgel war Joseph Gablers Lebenswerk. Mehr als 13 Jahre lang arbeitete er daran. Das für die damalige Zeit technisch revolutionäre Instrument stellte ihn vor fast unlösbare mechanische Probleme. Aber der schwäbische Tüftler fand immer wieder Wege, seine Orgel tatsächlich zum Klingen zu bringen. Sie sollte perfekt sein. Jahrelang habe er versucht, die menschliche Stimme mit einem Orgelregister, also einer Gruppe von Pfeifen gleicher Klangfarbe, nachzuahmen. So heißt es in einer der vielen Sagen. Weil es ihm nicht gelang, soll er eines Nachts dem Teufel seine Seele verschrieben haben – mit seinem eigenen Blut als Tinte. Als Gegenleistung habe er vom Teufel ein Stück Metall erhalten und damit seine Pfeifen gegossen. Und tatsächlich: Plötzlich habe das Register geklungen wie eine Vox humana, eine menschliche Stimme. Doch statt heiliger Melodien sang sie weltliche Musik, heißt es in der Sage weiter. Die Mönche fielen vom Glauben ab, verließen ihre Zellen und stürzten sich in die Weltfreuden. Der Abt tobte. Gabler sollte der Prozess gemacht werden. Verbrannt sollte er werden mitsamt seines unheimlichen Registers. Zuvor aber sollte er Ersatz für das teuflische Register schaffen. Weil ihm das gut gelang, schenkte der Abt ihm gnädig das Leben.
Die Vox-humana-Sage ist die wohl berühmteste Sage um die Gabler-Orgel in Weingarten. Unter den Bürgern der Stadt ist sie wohlbekannt. Und ihre Mystik besteht bis heute fort. „Bis ins kleinste Detail hat man das Register untersucht. Man hat es dreimal nachgebaut, aber die Nachbauten klingen völlig anders als das Original. Das kann bis heute keiner so richtig erklären“, sagt Debeur.
Ein Orgelbauer, der vor lauter Besessenheit einen Pakt mit dem Teufel schließt? Joseph Gabler muss ins Detail verliebt gewesen sein. Anders ist auch die umfassende Schönheit der Orgel nicht zu erklären. Anders ist nicht zu erklären, dass er selbst die verborgensten Orte der Orgel so aufwendig verziert hat. So etwa den Fußraum des Spieltisches, an dem der Organist sitzt. Kunstvolle Muster sind dort auf das Holz gemalt. „Das Holz da unten so schön zu machen, ist eigentlich völliger Schwachsinn“, sagt Debeur. „Das sieht niemand, außer vielleicht der Organist, und der auch nur, wenn er sich runterbeugt.“Gabler machte die versteckten Dinge besonders schön und er versteckte die schönsten Dinge. Warum, weiß keiner so genau. „Wahrscheinlich für sich selbst, für neugierige Nasen und für den lieben Gott“, sagt Debeur. Versteckt hinter Hunderten von Metallpfeifen, großen und kleinen, finden sich sogar zwanzig Pfeifen aus Elfenbein.
Gleich daneben stehen Pfeifen aus Holz, die Gabler in mühsamer Handarbeit verziert hat. Pfeifen aus Elfenbein, tief verborgen im Inneren der Orgel? Holzpfeifen, liebevoll gedrechselt und dann doch bis zur Unkenntlichkeit weit nach innen verbaut? „Das ist zwecklos aber nicht sinnlos“, sagt Stephan Debeur. „Diese besonders schönen Pfeifen erfüllen keinen besonderen musikalischen Zweck. Vielleicht offenbaren sie aber ein Stück weit die Philosophie und den Glauben des Joseph Gabler“, sagt Debeur und zitiert aus der Bibel: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“
Gablers Perfektionismus kostete Zeit und Geld. Es kam zum Streit mit dem Kloster. Wegen der schlechten Zahlungsmoral seiner Arbeitgeber soll Gabler daraufhin einen versteckten Hebel in seine Orgel eingebaut haben. Als die letzten Zahlungen ausblieben, brauchte der listige Orgelbauer den Hebel nur noch umzulegen, und die Orgel gab nichts als ein Jaulen von sich. Die säumigen Klosterherren haben, so wird erzählt, daraufhin schnell bezahlt.
Nah an den Leuten
Noch immer sprechen die Weingartener viel über ihre Orgel. „Joseph Gabler ist es gelungen, mit seinem Kunstwerk so nah an die Leute heranzukommen, dass sie Geschichten erzählen. Schon das ist doch eine wahnsinnige Leistung. Das hat kein anderer Orgelbauer geschafft“, sagt Organist Debeur.
Und bis heute versuchen die Menschen, die Geheimnisse der GablerOrgel zu lüften. In einem Fall ist es ihnen gelungen: Den geheimen Hebel hat es wirklich gegeben, davon geht man heute aus. Bei Renovierungsarbeiten am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er jedoch ausgebaut. Wolfgang Rehn, ein Schweizer Orgelbauer, war fasziniert von der Legende. Als er den Auftrag bekam, die Orgel zu restaurieren, hinterließ er – ganz im Sinne des einstigen Orgelbauers – einen Gruß: Er installierte erneut einen Geheimhebel. Gefunden hat ihn bisher niemand.