Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Henriette Gärtner spricht in Tuttlingen
Die Pianistin äußert sich zu Belastungen, denen sich Musiker aussetzen.
TUTTLINGEN - Sind Musiker Hochleistungssportler? Mit dieser Frage beschäftigt sich die renommierte Pianistin Henriette Gärtner beim Vortrag im Open Campus der Hochschule Tuttlingen (Kronenstraße 16) am heutigen Dienstag um 19 Uhr. Gärtner, die in Schwandorf aufgewachsen ist, in Meßkirch Abitur gemacht hat und in Spaichingen lebt, ist nicht nur Pianistin, sondern auch Musikphysiologin und hat Leistungssport betrieben. SZ-Redakteurin Ingeborg Wagner sprach mit ihr.
Frau Gärtner: Sind Musiker Hochleistungssportler?
Ein ganz klares: Ja. Alleine schon, wenn man sich das Körperliche anschaut, das sie leisten müssen. Die Geschwindigkeit der Bewegung, die Kraft der Anschläge und wie sie auf die Gelenke wirken, dazu die Herzfrequenz, die während eines Konzertes über 90 Minuten wie bei einem Hochleistungssportler am oberen Rand der Leistungsfähigkeit ist. Es ist brutal, was ein Musiker aushalten muss. Dazu kommt noch der psychische Druck, dem die Musiker auf der Bühne ausgesetzt sind, den Erwartungen und Anforderungen nicht nur gerecht zu werden, sondern diese zu übertreffen.
Sie haben mit drei Jahren begonnen, Klavier zu spielen, ihr erster Auftritt war mit fünf Jahren. Seitdem üben sie täglich mehrere Stunden. Wie verkraften Sie das?
Bei mir war es zum Glück schon immer so, dass für mich Musik und Sport, auch Tanzen und Bewegen, immer eine Einheit war. „Musiker sind Hochleistungssportler der kleinen Muskeln“, um Professor Eckart Altenmüller zu zitieren, der unter anderem eine Spezialambulanz für Musiker-Erkrankungen in Hannover aufgebaut hat. Nur können wir eben nicht nur die kleinen Muskeln trainieren, sondern müssen den Körper als Ganzes sehen und alle Abläufe betrachten.
Ihr Promotionsthema lautete „Über den Zusammenhang von Klang, Kraft und Kinematik beim Klavierspiel“. Was haben Sie für sich daraus mitnehmen können?
Die tatsächlich neuen Erkenntnisse für mich waren, die körperliche Anstrengung und Anforderung in nackten Zahlen vor mir zu sehen – Donnerwetter. Im Zusammenspiel von Körper und Klavier betrachte ich den Körper als erstes Instrument: der Umgang mit der Tastatur, wie sitze ich, habe ich Bodenkontakt? Wie frei ist mein Schulter-Arm-Gürtel-Bereich, wie atmen meine Handgelenke? Es ist von Vorteil, eine gute Körperwahrnehmung zu haben. Dazu gibt es viele Techniken und Methoden wie Ausgleichsbewegungen und Entspannungstechniken. Wichtig ist, dass jeder für sich etwas findet, was für ihn und zu ihm passt. Ziel soll sein, sich und seinen Körper am Instrument stets besser wahrnehmen zu können.
Wenn ich Sie richtig verstehe, dann war vieles nicht neu für Sie.
Für mich als Musikphysiologin ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Bewegung und Ausgleichssport zum Instrumentalspiel – wie auch zum Leben – dazugehören, und nicht, wie es oft bei Musikern ist, erst dann, wenn sie beim Spielen ihres Instruments Einschränkungen oder Schmerzen haben. Eine kleine Verletzung reicht aus, um sich ganz unbewusst eine Schonhaltung anzugewöhnen, die mit weiteren zusätzli- chen Verspannungen einhergeht. Wird die Schonhaltung zur Gewohnheit, wird es immer schwieriger, auszubrechen.
Mitte der 1990er-Jahre haben Sie sogar Hochleistungssport betrieben im Twirling. Wie weit haben Sie es da gebracht – und wann haben Sie damit aufgehört?
Ich war mehrfache Deutsche Meisterin, doch der sportliche Höhepunkt war, dass ich im Duo in Toronto, Kanada, bei den Weltmeisterschaften auf dem sechsten Platz gelandet bin und Deutschland im Finale vertreten habe. Aufgehört habe ich 1999, kurz bevor ich nach Spaichingen umgezogen bin. Damals habe ich mir beim Twirling bei der Meisterschaft in Frankfurt das linke vordere Kreuzband gerissen. Allein deshalb, weil ich mit dem Kopf irgendwo ganz anders war. Der Umzug, ich musste mein Leben wieder neu sortieren, das war alles zu viel. Ich bin aber nach wie vor Trainerin und habe die Lizenz im Kunstturnen der Frauen. Wenn ich es zeitlich einrichten kann, helfe ich bei der Twirling-TanzSport-Gruppe Niedereschach aus und gebe mein Wissen weiter.
Welchen Sport machen Sie heute?
Tanzen ist meine ganz große Leidenschaft, das Bewegen zur Musik. Ich bin immer noch im Ballett aktiv, gehe gerne schwimmen und mag strammes Gehen und Wandern. Da kann ich mich erholen, abschalten und regenerieren.
Ihr Tag hat wohl mehr Stunden als der anderer Leute. Wie haben Sie es geschafft, neben Ihrer Konzerttätigkeit nicht nur zu studieren, sondern auch zu promovieren?
Es gab Zeiten, in denen ich kaum geschlafen habe, weil ich einfach keine Zeit hatte. Durch meine selbstständige Tätigkeit habe ich mittlerweile die Freiheit, selbst den Stecker ziehen zu können. Dann bleibe ich ganz bei mir, mache mein Ding. Ich übe nach wie vor jeden Tag drei, vier, fünf Stunden, höre aber auch mal früher auf, wenn ich merke, dass es gerade nicht läuft.
Was machen Sie im Rahmen Ihrer Selbstständigkeit?
Mein Hauptfeld ist nach wie vor meine Konzerttätigkeit. Nach dem Abitur hatte ich zuerst ein Lehramtsstudium an der Universität Konstanz absolviert, bin dabei auf den Bereich der Bewegungsphysiologie gestoßen. Parallel zum Referendariat und darüber hinaus habe ich Klavier an der Accademia Pianistica Incontri col Maestro in Imola studiert. Ich bin froh über meine Studien, die für mich eine Einheit bilden. Dass ich damit nicht das klassische Bild eines Künstlers erfülle, weiß ich wohl. Ich halte Vorlesungen an der Musikhochschule Trossingen im Bereich Musikphysiologie/Musikergesundheit und gebe Meisterkurse mit dem Thema Körper und Klavier, wobei inzwischen auch andere Instrumentalisten zu mir kommen, um sich beraten zu lassen. Kürzlich war ich dazu in Moskau eingeladen.