Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Als der brave Süden wild wurde
Christoph Wagner blickt zurück auf die Beatfans und Hippies in Baden-Württemberg
Liverpool bildete das Epizentrum des Erdbebens. Doch die Schockwellen waren bis in die hintersten Winkel Baden-Württembergs zu spüren“. Das schreibt der Musikjournalist Christoph Wagner in seinem soeben erschienenen Buch, dort stellt er ziemlich vollständig, die damalige Szene in BadenWürttemberg vor. Bands, Lokale, Underground-Keller, Musikerkommunen, Initiativen. Gibt einen Überblick über die Auftritte der EnglandBands hier. The Who in Ravensburg und Ulm, 1967. Vorgruppe unter anderem: die Earlybirds aus Leutkirch. Für den damaligen Drummer Walter Schneider ein Riesending. Der Junge aus Leutkirch (fast) auf Augenhöhe mit Keith Moon!
Die Stones auf dem Killesberg
Die Rolling Stones spielten in Stuttgart, auf dem Killesberg. Das war allerdings schon später, im Juni 1970. Dabei: Rupert Leser, der Fotograf der „Schwäbischen Zeitung“mit seiner Kamera, so nahe an Jagger&Co, wie heute kein Pressefotograf mehr kommt. Heute gelten Knebelverträge, Führung in den Fotograben durch kräftig gebaute Security, die Weisung, die Stars höchstens drei Minuten oder drei Stücke lang oder auch kürzer abzulichten, ohne Blitz. Vielleicht sogar, die Fotos vor der Veröffentlichung dem Tour-Manager vorzulegen. Andere Zeiten.
Damals ging das einfacher. Beim legendären Beatles-Konzert in München, anno 1966 im Zirkus Krone, hatte Rupert Leser kein Ticket, keine Akkreditierung. Dafür eine Idee. Leser fragte einfach einen Polizisten, ob er ihm über den Absperrzaun helfen könne. „Wissen Sie, ich muss fotografieren“, hat er gesagt. Natürlich in gepflegtem Oberschwäbisch.
Der Bildberichterstatter der „Schwäbischen Zeitung“Rupert Leser war auch beim legendären Konzert von Casey Jones & The Governors 1965 in der Oberschwabenhalle Ravensburg dabei. Legendär, weil die „Langhaardackel“, so die eher nicht liebevolle Bezeichnung für die BeatFans, den Zwergenaufstand probten. Die Bühnendeko, und dabei handelte es sich um ein paar Töpfe mit Blumen (!), ging zu Bruch. Rupert Leser dazu später:„Die Leute, die waren so begeistert, die sind bis an die Barriere. Und die Bühne ist eingepflanzt gewesen mit lauter schönen Pflanzen. Und dann sind die gekommen und wo die angefangen haben zu spielen, haben die denen die Blumen vor die Füße nageschmissen. Die jungen Leute sind aus sich raus gegangen wie ein Revolver und dann hat der Sprecher bekannt gegeben, wenn sie nicht sofort aufhören, ist das Konzert zu Ende . .... Ja, das hat es noch nie gegeben in der Oberschwabenhalle. Ja, ich hab gemeint, die spinnen. Da hab ich gar kein Verständnis dafür gehabt. Das war für mich absurd.“
Auch beim ersten großen OpenAir im Süden, 1970 in Konstanz am Hafen, war Rupert Leser dabei. Für viele bedeutete dieses zweitägige Open-Air den Eintritt in eine neue Welt. Gleichgesinnte und Musik als Alternative zum braven bis stockkonservativen Umfeld. Eine damals 16-Jährige aus dem Allgäu: „Wir fuhren mit dem Zug nach Konstanz, das Bild im Bahnhof werde ich nie vergessen. Der war rappelvoll, die Leute lagen in ihren Schlafsäcken übereinander. Und die Bands – für mich wie eine Initiation“. Der Weg in die alternative Szene.
Der Süden lebte auf, wurde wild. Christoph Wagner schildert, mit vielen Fotos aus der damaligen Zeit, das Entstehen einer ganz neuen Szene. Folkbands wie Elster Silberflug. Jazzgruppen, Bluesbands, Soulgruppen. Und natürlich Rockbands. Guru Guru um Drummer Mani Neumaier sind immer noch auf Tour, 50 Jahre heuer. Hellmut Hattler von der Ulmer Artrockgruppe Kraan ist noch höchst aktiv, auch mit seiner „alten“Gruppe.
Die meisten Bands, einstige Lokalmatadoren, sind allerdings Geschichte. Die Allsounds aus Ebingen. The Wishman, später Power Play aus Riedlingen. Im Umfeld dabei übrigens der junge Winfried Kretschmann, dazu im Buch ein hübsches Bild. Die Sidetracks aus Ravensburg. Die Earlybirds aus Leutkirch, Prof. Wolfff aus Ulm.
Wichtige Schwobarocker
Und natürlich, im Süden ganz wichtig, die Schwobarocker. Wolle Kriwanek, die Brüder Köberlein. Grachmusikoff, Schwoißfuaß. Ihr Hit „Oinr isch emma dr Arsch“hatte, und hat, fast den Rang einer Schwaben-Hymne.
Der Autor Christoph Wagner hat gut recherchiert. Beeindruckend, wie viele alte Fotos er für das Buch zusammenbekommen hat. Das Band- und Personenregister umfasst 480 Einträge. Ein ziemlich vollständiger Überblick. Nur eine Gruppe hat Wagner vergessen, aber es hat ja so viele gegeben: Die Beat&Soul-Band, in welcher der Rezensent 1967 in Wertheim am Main aufspielte. Auch in Amiclubs, mit fetter Gage, als der Dollar noch vier Mark wert war. Mit dem schönen Namen „Mother’s Hate“.