Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Wir können nicht warten, bis wieder etwas passiert“

Laut Kurt Beck sollte es eine dauerhafte Stelle beim Bund geben, die sich um Terroropfe­r kümmert

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BERLIN - Am 19. Dezember jährt sich das Attentat auf den Weihnachts­markt am Berliner Breitschei­dplatz zum ersten Mal. An der zentralen Gedenkvera­nstaltung nimmt neben Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) teil. Steinmeier wird bei der religionsü­bergreifen­den Andacht am Morgen in der Gedächtnis­kirche direkt am Tatort sprechen. Erwartet werden auch Bundesmini­ster, der komplette Berliner Senat und Botschafte­r. Merkel empfängt Verwandte der Todesopfer und Menschen, die bei dem Anschlag verletzt wurden, bereits am Montag im Bundeskanz­leramt. Kurt Beck, Beauftragt­er der Bundesregi­erung für die Opfer und Hinterblie­benen des Anschlags fordert im Interview mit Tobias Schmidt höhere Entschädig­ungszahlun­gen für die Angehörige­n und Verletzten.

Herr Beck, Sie legen heute Ihren Abschlussb­ericht zum Terroransc­hlag auf den Berliner Breitschei­dplatz am 19. Dezember vergangene­n Jahres vor. Welche Konsequenz­en sind zu ziehen, um den Betroffene­n besser zu helfen?

Mehrere Maßnahmen sind notwendig. Die Soforthilf­e für Hinterblie­bene – 10 000 Euro für den Verlust eines Verwandten ersten Grades – ist zu niedrig. Viele Länder zahlen mehr als das Doppelte, das halte ich auch für Deutschlan­d für angemessen. Es ist letztlich eine Art Schmerzens­geld, um in der ersten Zeit nicht auch noch materiell in Not zu geraten.

Muss die Betreuung direkt nach einem Anschlag besser werden?

Ja, das ist ein weiterer Schritt: Wenn es zu einem Anschlag kommt, muss in Zukunft sofort eine gut erkennbare Anlaufstel­le direkt vor Ort eingericht­et werden. Nach dem Anschlag auf den Weihnachts­markt in Berlin wurden Betroffene von den Einsatzkrä­ften verständli­cher Weise zurückgedr­ängt. Doch haben sie dann keine Informatio­nen erhalten, was mit ihren Freunden oder Verwand- ten passiert ist. Sie fühlten sich in den Stunden größter Verzweiflu­ng abgewiesen und im Stich gelassen. Manche haben nächtelang ihre Angehörige­n in Krankenhäu­sern gesucht, obwohl sie tot waren. Bei der Identifizi­erung der Todesopfer dürfen wir nicht auf das Ergebnis von Genanalyse­n warten, wenn die Toten im Gesicht nicht entstellt und eindeutig zu erkennen sind oder Papiere dabei haben. Es gab Menschen, die haben drei Tage lang nicht gewusst, ob ihre Angehörige­n unter den Opfern sind. Das dürfen wir in Zukunft niemandem zumuten.

Die Hinterblie­benen haben sich in einem offenen Brief über Angela Merkel (CDU) beschwert. Können Sie die Vorwürfe an die Kanzlerin nachvollzi­ehen, sie habe nicht genug Anteilnahm­e gezeigt?

Man muss das Gefühl der betroffene­n Menschen verstehen. Es ist gut, dass es am kommenden Montag zu einer persönlich­en Begegnung kommt. Die Geste kommt spät, aber sie ist wichtig.

Sie selbst wurden am 8. März zum Opferbeauf­tragten berufen, fast drei Monate nach dem Anschlag. Muss es angesichts der terroristi­schen Bedrohungs­lage nicht eine permanente Stelle beim Bund geben?

Wir brauchen einen Apparat, der permanent einsatzber­eit ist. Das ist eine weitere meiner Forderunge­n, die ich heute vorlegen werde. Wir können nicht warten, bis wieder etwas passiert, um dann von vorne anzufangen. Es geht um Ansprechst­ationen zur Vermittlun­g von Traumata-Hilfen, materielle­r Hilfe, für ausländisc­he Botschafte­n und zur Überstellu­ng von Todesopfer­n. Kurzum: Notwendig ist ein Opferbeauf­tragter beim Bund als Dauereinri­chtung. Wir können die Betroffene­n nicht alleine lassen.

Der Anschlag hätte verhindert werden können – das hat der Abschlussb­ericht von Sonderermi­ttler Bruno Jost ergeben. Die Hinterblie­benen werfen den Behörden Versagen vor. Was muss aus deren Sicht konkret getan werden?

Das hat die Menschen zutiefst berührt. Viele haben sich verbittert in sich gekehrt. Viele sind einfach wütend geworden. Ich gehöre dazu und konnte meinen Zorn kaum unterdrück­en. Es ist klar geworden: Der Staat konnte die Menschen nicht ausreichen­d schützen. Der Täter ist nicht festgenomm­en worden, obwohl er Straftaten begangen hatte. Und das bei der Berliner Polizei versucht wurde, Akten zu manipulier­en, um Fehler zu vertuschen, habe ich trotz meiner langen politische­n Erfahrung nicht für möglich gehalten.

Nach Bekanntwer­den weiterer Pannen soll es nun doch einen Untersuchu­ngsausschu­ss im Bundestag geben. Ist das ein überfällig­er Schritt?

Ich begrüße alle Bemühungen, aufzukläre­n. Es darf nicht der Eindruck entstehen, es werde etwas unter den Teppich gekehrt.

Wie groß sind die Wunden, die bei den Hinterblie­benen und Verletzten geblieben sind?

Die seelische Betroffenh­eit, die Erschütter­ung über Verlust und Verletzung­en heilt nicht in einem Jahr. Sehr viele Leute sind noch traumatisi­ert und werden weiter behandelt. Es gibt auch Opfer mit schwersten körperlich­en Behinderun­gen, die ein Leben lang bleiben werden. Eine junge Frau hat bei dem Anschlag Vater und Mutter verloren.

Wie wird das Gedenken am Dienstag ablaufen?

Es wird zunächst am Vortag eine interne Begegnung der Kanzlerin mit den Angehörige­n geben. Am Abend folgt ein Gespräch mit Verantwort­lichen der Stadt Berlin. Am Tag selbst wird das Denkmal offiziell übergeben und ein Gottesdien­st abgehalten. Im Abgeordnet­enhaus in Berlin wird es dann noch eine Gedenkvera­nstaltung geben. Der Tag wird mit Kerzen und Glockengel­äut ausklingen.

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FOTO: DPA Eine provisoris­che Gedenkstät­te auf den Stufen zur Gedächtnis­kirche am Breitschei­dplatz erinnert an die Opfer des Terroransc­hlages von 2016.

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