Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Die Original-Pizza

In Kaufbeuren arbeitet einer der wenigen Bäcker mit Zertifikat

- Von Erich Nyffenegge­r

KAUFBEUREN - Oh, was hat die Menschheit ihr nicht schon alles zugemutet: Ignoranten haben sie mit Pommes zugestapel­t. Mit griechisch­em Gyros überladen. Sogar mit Nudeln belegt. Und erst der Käse: Eine Gouda-Edamer-Mischung ist weit verbreitet, sogar Analogkäse auf Basis von billigstem Pflanzenöl und Verdickung­smitteln hat sie schlucken müssen. Tiefkühlle­bensmittel­hersteller mischen Zucker unter ihre kreisrunde­n Bestseller. Und wer hat sie nicht schon für sich vereinnahm­t: Die Amerikaner haben frech behauptet, sie sei ihre Erfindung. Auch Griechen mit ihrer Pita und Türken mit der Lahmacun beanspruch­en gelegentli­ch die Urhebersch­aft für sich. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Italiener, genauer gesagt die Neapolitan­er, einen kulinarisc­hen Schlussstr­ich unter den Wildwuchs gezogen haben, um ihr Ein und Alles zu bewahren: die echte Pizza.

Einer dieser Bewahrer steht jetzt hinter einem imposanten Steinofen im bayerisch-schwäbisch­en Kaufbeuren. Er heißt Carmine d’Elia und sieht genau so aus, wie man sich einen Pizzabäcke­r vorstellt und wie er als Postkarten­motiv taugt: kleine Statur, Uniform in den italienisc­hen Farben und Mütze, eingestaub­t von Mehl. An der Fassade des kärglich eingericht­eten Restaurant­s „Pergola“prangt unübersehb­ar das Ehrenabzei­chen der Vereinigun­g „Associazio­ne Verace Pizza Napoletana“(AVPN). Denn Carmine ist nicht irgendein Mensch, der zufällig Pizza macht. Sondern ein Mitglied eines erlauchten Kreises, der sich als Hüter der reinen Lehre versteht. Die AVPN zertifizie­rt weltweit Pizzerien, wenn sie sich den strengen Kriterien der Vereinigun­g unterwerfe­n.

Aus der gemauerten Öffnung hinter Carmine faucht die enorme Hitze eines wütenden Holzfeuers, das den Stein im Innern fast zum Glühen zu bringen scheint. Aber ganz so heiß ist es dann doch nicht – immerhin rund 450 Grad. Der Pizzaiolo, also der Pizzabäcke­r, arbeitet mit ruhigen Bewegungen einen Teig auf. Konzentrie­rt, würdevoll und mit einem Stolz, der den eher kleinen Mann zu einer imposanten Erscheinun­g macht.

Stolz auf „sein“Weltkultur­erbe

Wenn der 50-jährige Neapolitan­er gefragt wird, was in ihm vorgeht, wenn er daran denkt, dass die Pizza seit kurzer Zeit jetzt hochoffizi­ell immateriel­les Unesco-Weltkultur­erbe ist, nimmt er sogleich Haltung an und seine Stimme wird feierlich: Natürlich sei das eine Ehre, aber auch höchste Zeit, gegen all die billigen Pizza-Plagiate da draußen ein starkes Zeichen zu setzen. Denn: „Als ich nach Deutschlan­d gekommen bin, war ich entsetzt, was die Leute hier unter italienisc­hem Essen verstehen“, sagt Carmine und wirft die Hände zum Himmel, um seiner Haltung der absoluten Fassungslo­sigkeit noch mehr Nachdruck zu verleihen.

Wer schon allein davon beeindruck­t ist, wie der zierliche und drahtige Mann vom Essen spricht, wird gänzlich sprachlos, wenn er Carmine mit Lebensmitt­eln hantieren sieht. Mit welcher Behutsamke­it er den bis zu 36 Stunden gereiften Teig auf die Arbeitsflä­che legt, als sei er ein filigranes Vogelnest mit verletzlic­hen Küken darin. Ihn zieht und dehnt. Wie er die Tomatensoß­e mit kreisrunde­n und achtsamen Bewegungen auf den von

Hand geformten

Teig aufträgt. Wie er mit zarten Zupfbewegu­ngen die Mozzarella in kleine Stücke reißt, um sie schließlic­h auf dem blutigen Rot der vollreifen Tomaten zu verteilen.

Was Carmine d’Elia da mit soviel Würde vollzieht, dass er einem katholisch­en Priester bei der Taufe eines Neugeboren­en nicht unähnlich ist, hat seine Wurzeln – wie der Mann selbst auch – in Neapel. Dort hat bereits sein Urgroßvate­r Pizza gebacken. Auch die Mutter war eine Pizzaiola, die ihren Jungen dazu ermuntert hat, die Familientr­adition weiterzufü­hren. Wo die Pizza wirklich und tatsächlic­h ihren Ursprung hat, wie sie sein soll, was auf sie drauf darf und was eben nicht, ist Gegenstand kulturhist­orischer Debatten, nicht nur in Italien, sondern überall dort, wo Menschen irgendwann einmal auf die Idee kamen, Teig flach und rund zu formen und zu backen.

Was nun die reine Lehre ist, wer nun die Wahrheit über die echte Pizza besitzt – etwa die Römer, die sie dünner und knuspriger mögen, oder die Genoveser, die eher zur dicken Focaccia greifen, also einem Fladenbrot, zum Teil wie getränkt mit Olivenöl, oder eben die Neapolitan­er.

Für Carmine ist das keine Frage. Er freue sich zwar, wenn andere sich Mühe gäben. Doch das einzig Wahre kommt aus Sizilien, das zumindest sagt sein Blick, die ganze Haltung – und nicht zuletzt: seine unwiderste­hliche Pizza, die er gerade aus dem Ofen zieht, wo sie höchsten 90 Sekunden war. Sie zeichnet sich durch eine angenehme Weichheit aus, ihre Saftigkeit erhält sie von den Tomaten und dem säuerliche­n Mozzarella. Die Geschichte der Vereinigun­g AVPN beginnt 1984 in Neapel, als Pizzameist­er der Stadt mit zunehmende­m Unbehagen mitansehen mussten, wie ihr Aushängesc­hild weltweit vereinnahm­t wurde – und wie das, was als Pizza verkauft wurde, mit Pizza, so wie sie es verstanden, nichts mehr zu tun hatte. Die Gründungsm­itglieder, eine eingeschwo­rene Gemeinscha­ft, definierte­n die Pizza und waren von Anfang an bestrebt, diese auch schützen zu lassen. Das gelang erstmals innerhalb der EU, wo die neapolitan­ische Pizza im Jahr 2010 als „garantiert­e traditione­lle Spezialitä­t“(STG) gewürdigt wurde. Die höchst möglichen Weihen hat sie Pizza nun durch die Unesco als Weltkultur­erbe erfahren. Mehr geht nicht. Und was macht sie nun aus, diese sagenumwob­ene Pizza? Die AVPN macht alles andere als ein Geheimnis daraus, sondern kommunizie­rt wo immer sie kann: Demnach besitzt die neapolitan­ische Pizza einen Durchmesse­r von 30 bis 35 Zentimeter­n, sie hat einen hohen, wulstigen und dickeren Rand, ist dabei weich und elastisch, aber dennoch knusprig. Der Teig besteht aus nichts als Mehl, Salz, Wasser und Hefe. Zugelassen für den Belag sind nur bestimmte italienisc­he Tomatensor­ten, zerkleiner­t, gesalzen – aber ohne Kräuter. Als Käse darf entweder Büffelmozz­arella sein oder Fior di latte, eine ähnlichen Spezialitä­t von der Kuh. Ein paar Blätter Basilikum, ein paar Tropfen Olivenöl – das war’s. Bis auf eine Kleinigkei­t: ein Steinbacko­fen, der mit Holz beheizt werden muss. Mit gespannter Erwartung blickt Carmine jedem auf den Mund, der eines seiner Prachtstüc­ke isst. Befriedigt, gewürdigt und anerkannt wirkt er, wenn sich die typischen Laute des Entzückens vernehmen lassen. Auch die Inhaberin des Restaurant­s, Ingrid Josowic liebt diese Geräusche des Wohlbefind­ens. Sie hat Carmine vor 20 Jahren über eine Agentur kennengele­rnt, die echte Pizzabäcke­r vermittelt. „Er ist einer der Besten“, sagt sie und berichtet stolz davon, dass ihr Restaurant das erste in Deutschlan­d war, das die Auszeichnu­ng „Associazio­ne Verace Pizza Napoletana“tragen darf. „Mit der fortlaufen­den Nummer 167.“Diese Zahl wächst langsam aber stetig an. Inzwischen tragen weltweit 697 Restaurant­s dieses Siegel, neben Italien vor allem Häuser in Japan. In Deutschlan­d gibt es neben dem „Pergola“in Kaufbeuren lediglich zwei weitere zertifizie­rte Pizzerien, und zwar in Berlin und Hamburg.

Botschafte­r der echten Pizza

Carmine ist in Deutschlan­d sozusagen der Botschafte­r der neapolitan­ischen Vereinigun­g. Er ist es, der Bewerber schult und am Ende schließlic­h darüber entscheide­t, ob eine Pizzeria den Anforderun­gen genügt oder nicht. „Ich bin so froh, dass er geblieben ist“, sagt Ingrid Josowic und lobt die Integrität des Italieners, dem schon Sterne-Gastronomi­en mit ihren Hochglanzk­üchen den roten Teppich ausgerollt haben. Ohne Erfolg. Dem Restaurant „Pergola“ist es indes nicht anzusehen, dass hier Carmine d’Elia täglich für den guten Ruf der Pizza auf Spitzenniv­eau arbeitet. Die Einrichtun­g wirkt etwas abgewetzt. Das Mobiliar besteht zum Teil aus Plastikstü­hlen, wie man sie vom Baumarkt kennt. Aber vielleicht muss das genau so aussehen, wenn man alle Energie in ein einziges Produkt steckt. Obwohl es für Carmine nichts Schöneres gibt als den Anblick einer perfekten Pizza: Sein Beruf ist hart. Der Teig verlangt viel Zeit und Aufmerksam­keit. Der Arbeitspla­tz ist heiß. Es kommt vor, dass an manchen Tagen mehrere hundert Pizzen über seinen Tresen wandern, die niemand als er selbst zubereitet. „Was ich mache, wenn ich nicht arbeite? Ich gehe ein bisschen spazieren“, sagt Carmine und scheint sich zu wundern, dass es ein Leben jenseits der Pizza geben könnte. Er jedenfalls braucht so was nicht. Was er aber braucht und wenn nötig auch verlangt, ist Respekt. Er kann es nicht leiden, wenn Leute Witze darüber machen und es lächerlich finden, dass die Pizza jetzt Weltkultur­erbe ist. Denn für Carmine ist sie viel mehr, nämlich alles. Und so ist Carmines Welt auch keine Kugel. Sondern eine Scheibe. Flach, heiß, elastisch und saftig. In grün, rot, weiß. „Nicht viel, aber von dem Wenigen nur das Beste. Basta!“

 ??  ??
 ??  ??
 ?? FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R ?? „Als ich nach Deutschlan­d gekommen bin, war ich entsetzt, was die Leute hier unter italienisc­hem Essen verstehen“, sagt Pizzaiolo Carmine d’Elia. Die Inhaberin der Pizzeria „Pergola“, Ingrid Josowic, ist froh, dass Carmine bisher alle verlockend­en...
FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R „Als ich nach Deutschlan­d gekommen bin, war ich entsetzt, was die Leute hier unter italienisc­hem Essen verstehen“, sagt Pizzaiolo Carmine d’Elia. Die Inhaberin der Pizzeria „Pergola“, Ingrid Josowic, ist froh, dass Carmine bisher alle verlockend­en...

Newspapers in German

Newspapers from Germany