Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Original-Pizza
In Kaufbeuren arbeitet einer der wenigen Bäcker mit Zertifikat
KAUFBEUREN - Oh, was hat die Menschheit ihr nicht schon alles zugemutet: Ignoranten haben sie mit Pommes zugestapelt. Mit griechischem Gyros überladen. Sogar mit Nudeln belegt. Und erst der Käse: Eine Gouda-Edamer-Mischung ist weit verbreitet, sogar Analogkäse auf Basis von billigstem Pflanzenöl und Verdickungsmitteln hat sie schlucken müssen. Tiefkühllebensmittelhersteller mischen Zucker unter ihre kreisrunden Bestseller. Und wer hat sie nicht schon für sich vereinnahmt: Die Amerikaner haben frech behauptet, sie sei ihre Erfindung. Auch Griechen mit ihrer Pita und Türken mit der Lahmacun beanspruchen gelegentlich die Urheberschaft für sich. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Italiener, genauer gesagt die Neapolitaner, einen kulinarischen Schlussstrich unter den Wildwuchs gezogen haben, um ihr Ein und Alles zu bewahren: die echte Pizza.
Einer dieser Bewahrer steht jetzt hinter einem imposanten Steinofen im bayerisch-schwäbischen Kaufbeuren. Er heißt Carmine d’Elia und sieht genau so aus, wie man sich einen Pizzabäcker vorstellt und wie er als Postkartenmotiv taugt: kleine Statur, Uniform in den italienischen Farben und Mütze, eingestaubt von Mehl. An der Fassade des kärglich eingerichteten Restaurants „Pergola“prangt unübersehbar das Ehrenabzeichen der Vereinigung „Associazione Verace Pizza Napoletana“(AVPN). Denn Carmine ist nicht irgendein Mensch, der zufällig Pizza macht. Sondern ein Mitglied eines erlauchten Kreises, der sich als Hüter der reinen Lehre versteht. Die AVPN zertifiziert weltweit Pizzerien, wenn sie sich den strengen Kriterien der Vereinigung unterwerfen.
Aus der gemauerten Öffnung hinter Carmine faucht die enorme Hitze eines wütenden Holzfeuers, das den Stein im Innern fast zum Glühen zu bringen scheint. Aber ganz so heiß ist es dann doch nicht – immerhin rund 450 Grad. Der Pizzaiolo, also der Pizzabäcker, arbeitet mit ruhigen Bewegungen einen Teig auf. Konzentriert, würdevoll und mit einem Stolz, der den eher kleinen Mann zu einer imposanten Erscheinung macht.
Stolz auf „sein“Weltkulturerbe
Wenn der 50-jährige Neapolitaner gefragt wird, was in ihm vorgeht, wenn er daran denkt, dass die Pizza seit kurzer Zeit jetzt hochoffiziell immaterielles Unesco-Weltkulturerbe ist, nimmt er sogleich Haltung an und seine Stimme wird feierlich: Natürlich sei das eine Ehre, aber auch höchste Zeit, gegen all die billigen Pizza-Plagiate da draußen ein starkes Zeichen zu setzen. Denn: „Als ich nach Deutschland gekommen bin, war ich entsetzt, was die Leute hier unter italienischem Essen verstehen“, sagt Carmine und wirft die Hände zum Himmel, um seiner Haltung der absoluten Fassungslosigkeit noch mehr Nachdruck zu verleihen.
Wer schon allein davon beeindruckt ist, wie der zierliche und drahtige Mann vom Essen spricht, wird gänzlich sprachlos, wenn er Carmine mit Lebensmitteln hantieren sieht. Mit welcher Behutsamkeit er den bis zu 36 Stunden gereiften Teig auf die Arbeitsfläche legt, als sei er ein filigranes Vogelnest mit verletzlichen Küken darin. Ihn zieht und dehnt. Wie er die Tomatensoße mit kreisrunden und achtsamen Bewegungen auf den von
Hand geformten
Teig aufträgt. Wie er mit zarten Zupfbewegungen die Mozzarella in kleine Stücke reißt, um sie schließlich auf dem blutigen Rot der vollreifen Tomaten zu verteilen.
Was Carmine d’Elia da mit soviel Würde vollzieht, dass er einem katholischen Priester bei der Taufe eines Neugeborenen nicht unähnlich ist, hat seine Wurzeln – wie der Mann selbst auch – in Neapel. Dort hat bereits sein Urgroßvater Pizza gebacken. Auch die Mutter war eine Pizzaiola, die ihren Jungen dazu ermuntert hat, die Familientradition weiterzuführen. Wo die Pizza wirklich und tatsächlich ihren Ursprung hat, wie sie sein soll, was auf sie drauf darf und was eben nicht, ist Gegenstand kulturhistorischer Debatten, nicht nur in Italien, sondern überall dort, wo Menschen irgendwann einmal auf die Idee kamen, Teig flach und rund zu formen und zu backen.
Was nun die reine Lehre ist, wer nun die Wahrheit über die echte Pizza besitzt – etwa die Römer, die sie dünner und knuspriger mögen, oder die Genoveser, die eher zur dicken Focaccia greifen, also einem Fladenbrot, zum Teil wie getränkt mit Olivenöl, oder eben die Neapolitaner.
Für Carmine ist das keine Frage. Er freue sich zwar, wenn andere sich Mühe gäben. Doch das einzig Wahre kommt aus Sizilien, das zumindest sagt sein Blick, die ganze Haltung – und nicht zuletzt: seine unwiderstehliche Pizza, die er gerade aus dem Ofen zieht, wo sie höchsten 90 Sekunden war. Sie zeichnet sich durch eine angenehme Weichheit aus, ihre Saftigkeit erhält sie von den Tomaten und dem säuerlichen Mozzarella. Die Geschichte der Vereinigung AVPN beginnt 1984 in Neapel, als Pizzameister der Stadt mit zunehmendem Unbehagen mitansehen mussten, wie ihr Aushängeschild weltweit vereinnahmt wurde – und wie das, was als Pizza verkauft wurde, mit Pizza, so wie sie es verstanden, nichts mehr zu tun hatte. Die Gründungsmitglieder, eine eingeschworene Gemeinschaft, definierten die Pizza und waren von Anfang an bestrebt, diese auch schützen zu lassen. Das gelang erstmals innerhalb der EU, wo die neapolitanische Pizza im Jahr 2010 als „garantierte traditionelle Spezialität“(STG) gewürdigt wurde. Die höchst möglichen Weihen hat sie Pizza nun durch die Unesco als Weltkulturerbe erfahren. Mehr geht nicht. Und was macht sie nun aus, diese sagenumwobene Pizza? Die AVPN macht alles andere als ein Geheimnis daraus, sondern kommuniziert wo immer sie kann: Demnach besitzt die neapolitanische Pizza einen Durchmesser von 30 bis 35 Zentimetern, sie hat einen hohen, wulstigen und dickeren Rand, ist dabei weich und elastisch, aber dennoch knusprig. Der Teig besteht aus nichts als Mehl, Salz, Wasser und Hefe. Zugelassen für den Belag sind nur bestimmte italienische Tomatensorten, zerkleinert, gesalzen – aber ohne Kräuter. Als Käse darf entweder Büffelmozzarella sein oder Fior di latte, eine ähnlichen Spezialität von der Kuh. Ein paar Blätter Basilikum, ein paar Tropfen Olivenöl – das war’s. Bis auf eine Kleinigkeit: ein Steinbackofen, der mit Holz beheizt werden muss. Mit gespannter Erwartung blickt Carmine jedem auf den Mund, der eines seiner Prachtstücke isst. Befriedigt, gewürdigt und anerkannt wirkt er, wenn sich die typischen Laute des Entzückens vernehmen lassen. Auch die Inhaberin des Restaurants, Ingrid Josowic liebt diese Geräusche des Wohlbefindens. Sie hat Carmine vor 20 Jahren über eine Agentur kennengelernt, die echte Pizzabäcker vermittelt. „Er ist einer der Besten“, sagt sie und berichtet stolz davon, dass ihr Restaurant das erste in Deutschland war, das die Auszeichnung „Associazione Verace Pizza Napoletana“tragen darf. „Mit der fortlaufenden Nummer 167.“Diese Zahl wächst langsam aber stetig an. Inzwischen tragen weltweit 697 Restaurants dieses Siegel, neben Italien vor allem Häuser in Japan. In Deutschland gibt es neben dem „Pergola“in Kaufbeuren lediglich zwei weitere zertifizierte Pizzerien, und zwar in Berlin und Hamburg.
Botschafter der echten Pizza
Carmine ist in Deutschland sozusagen der Botschafter der neapolitanischen Vereinigung. Er ist es, der Bewerber schult und am Ende schließlich darüber entscheidet, ob eine Pizzeria den Anforderungen genügt oder nicht. „Ich bin so froh, dass er geblieben ist“, sagt Ingrid Josowic und lobt die Integrität des Italieners, dem schon Sterne-Gastronomien mit ihren Hochglanzküchen den roten Teppich ausgerollt haben. Ohne Erfolg. Dem Restaurant „Pergola“ist es indes nicht anzusehen, dass hier Carmine d’Elia täglich für den guten Ruf der Pizza auf Spitzenniveau arbeitet. Die Einrichtung wirkt etwas abgewetzt. Das Mobiliar besteht zum Teil aus Plastikstühlen, wie man sie vom Baumarkt kennt. Aber vielleicht muss das genau so aussehen, wenn man alle Energie in ein einziges Produkt steckt. Obwohl es für Carmine nichts Schöneres gibt als den Anblick einer perfekten Pizza: Sein Beruf ist hart. Der Teig verlangt viel Zeit und Aufmerksamkeit. Der Arbeitsplatz ist heiß. Es kommt vor, dass an manchen Tagen mehrere hundert Pizzen über seinen Tresen wandern, die niemand als er selbst zubereitet. „Was ich mache, wenn ich nicht arbeite? Ich gehe ein bisschen spazieren“, sagt Carmine und scheint sich zu wundern, dass es ein Leben jenseits der Pizza geben könnte. Er jedenfalls braucht so was nicht. Was er aber braucht und wenn nötig auch verlangt, ist Respekt. Er kann es nicht leiden, wenn Leute Witze darüber machen und es lächerlich finden, dass die Pizza jetzt Weltkulturerbe ist. Denn für Carmine ist sie viel mehr, nämlich alles. Und so ist Carmines Welt auch keine Kugel. Sondern eine Scheibe. Flach, heiß, elastisch und saftig. In grün, rot, weiß. „Nicht viel, aber von dem Wenigen nur das Beste. Basta!“