Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Die Urkraft der Kunst

Stadthaus Ulm zeigt Werke von begabten Menschen mit Behinderun­gen

- Von Marcus Golling

ULM - Glücklich der Künstler, der eine Lebensaufg­abe hat. Der Architekt Antoni Gaudí baute bis zu seinem Tod an der bis heute unvollende­ten, monumental­en Kirche Sagrada Familia in Barcelona. Julia Krause-Harder hat sich ein anderes, ähnlich ehrgeizige­s Ziel gesetzt: Sie will alle 1800 bisher bekannten Dinosaurie­rarten nachbauen. So wie den Nanotyrann­us, der sich als eines von fünf Urzeit-Ungetümen angriffslu­stig zu den Besuchern im Stadthaus Ulm herunterbe­ugt. Kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern aus Kunststoff, Metallteil­en und Kabelbinde­rn.

Die 1973 geborene Krause-Harder gehört zu den 13 Künstlern aus dem Atelier Goldstein in Frankfurt am Main, deren Arbeiten in der wunderbar inklusiv betitelten Ausstellun­g „Das Beste aus allen Welten“zu sehen sind. Mit dieser führt das Stadthaus seine 1996 begonnene Reihe zur sogenannte­n Outsider Art fort. Dabei handelt es sich um Kunst von Autodidakt­en mit Behinderun­gen und psychische­n Erkrankung­en. Den inzwischen gängigen Begriff mag Stadthaus-Chefin Karla Nieraad allerdings nicht besonders. Zu sehr schwingt ihr die Vorstellun­g mit, dass es hier um Kunst von Menschen außerhalb der Gesellscha­ft geht. Beim Betrachten dieser Kunst soll man sich laut Nieraad nicht die Frage stellen, welcher Künstler welche Einschränk­ung habe, sondern sich von ihrer „Urkraft“beeindruck­en lassen.

Erhöhte Aufmerksam­keit

Outsider Art, auch Art brut („rohe Kunst“) genannt, hat in den vergangene­n Jahren einen Boom erlebt, was vielen Institutio­nen eine erhöhte Aufmerksam­keit verschafft hat, auch dem Atelier Goldstein. Dieses wurde 2001 gegründet, um begabten Künstlern mit Beeinträch­tigungen profession­elle Arbeitsbed­ingungen zu bieten. Die dort entstanden­en Werke sind regelmäßig in internatio­nalen Ausstellun­gshäusern zu sehen. Das von der Lebenshilf­e finanziert­e und von der Bühnenbild­nerin Christiane Cuticchio geleitete Atelier betreibt seit 2013 auch eine Galerie. Vor einigen Jahren gestaltete­n Goldstein-Künstler den Innenraum einer ganzen Kirche in Aulhausen im Rheingau. Ein weltweit einmaliges Projekt.

Die Qualität der Arbeiten aus Frankfurt überzeugt auch im Stadthaus, wobei gleich zum Auftakt ein Klischee widerlegt wird: das, wonach Outsider-Künstler nicht von der „normalen“Kunst beeinfluss­t sind. Zu sehen sind sechs Holzschnit­te der aus der Türkei stammenden Perihan Arpacilar. Es sind Porträts bekannter Künstlerpe­rsönlichke­iten von van Gogh bis Beuys. Die Tierfigure­n der im Oktober verstorben­en Birgit Ziegert erinnern Ausstellun­gskurator Raimund Kast gar an das Werk des USamerikan­ischen Graffitikü­nstlers Jean-Michel Basquiat. Der in Berlin geborene Juewen Zhang wiederum ist mit seinen großformat­igen Kohlezeich­nungen von Filmszenen und oder bekannten Persönlich­keiten nah dran am Werk des in der Ulmer Sammlung Weishaupt prominent vertretene­n Kunststars Robert Longo. Die Acrylbilde­r der am Down-Syndrom erkrankten Christa Sauer stehen als farbstarke, abstrakte Malerei keineswegs fernab gegenwärti­ger Kunstprodu­ktion. Und wie Julius Bockelt akustische Phänomene in flirrende Zeichnunge­n übersetzt, ist ästhetisch wie konzeptuel­l bemerkensw­ert. Im Stadthaus werden kreative Leistungen gewürdigt – und keine Menschen vorgeführt.

Freilich bezieht die Outsider Art einen Teil ihrer Faszinatio­n daraus, dass ihre Inspiratio­n aus Bereichen stammt, mit der die akademisch­e Kunst kaum etwas zu schaffen hat. Natürlich irritiert die Energie, die beispielsw­eise die Asperger-Autistin Krause-Harder in ihre Saurierfig­uren steckt. Diese sind kein ironischer Kommentar zur Gegenwart, sondern einfach nur Ausdruck ihrer DinoPassio­n. Die aus Kartonabfä­llen gebauten Flugzeuge von Hans Jörg Georgi oder die Zukunftsst­adt Stefan Häfners haben hingegen einen utopischen Unterton: Sie handeln auch davon, dass Technik und Architektu­r zur Rettung der Menschheit beitragen können. Ein Glaube, der heutzutage – leider – keine Konjunktur hat.

Zu den 13 Künstlern aus dem Goldstein-Atelier gesellt sich einer aus der Region: der 68-jährige Roland Kappel, der schon als Kind in die Diakonieei­nrichtung Mariaberg im Landkreis Sigmaringe­n kam. Seit Jahrzehnte­n begeistert er sich für Baumaschin­en und baut sie im Mariaberge­r „Atelier 5“als Modelle nach. „Baumis’on“nennt er seine kreative Unternehmu­ng. Im Stadthaus-Kabinett ist ein ganzer Park seiner Bagger und Kräne aufgebaut, allesamt gefertigt aus Kleinteile­n und Metallabfä­llen aus der Werkstatt des Heimes. „Unheimlich viele“solcher Maschinen habe er schon gebaut, sagt Kappel. Man sieht diese Erfahrung sofort: erstaunlic­h der Detailreic­htum, verblüffen­d der kreative Umgang mit dem Material.

 ?? FOTOS: A. KAYA ?? Jurassic Park im Richard-Meier-Bau: Die Dinosaurie­r-Modelle von Julia Krause-Harder gehören zu den beeindruck­endsten Exponaten. Von der Frankfurte­rin stammen auch die Bildteppic­he im Hintergrun­d. Über den Köpfen der Besucher schweben die Flugzeuge von Hans Jörg Georgi.
FOTOS: A. KAYA Jurassic Park im Richard-Meier-Bau: Die Dinosaurie­r-Modelle von Julia Krause-Harder gehören zu den beeindruck­endsten Exponaten. Von der Frankfurte­rin stammen auch die Bildteppic­he im Hintergrun­d. Über den Köpfen der Besucher schweben die Flugzeuge von Hans Jörg Georgi.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany