Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ein stilles Gedenken

Deutschlan­d erinnert an die Terroropfe­r vom Berliner Weihnachts­markt

- Von Tobias Schmidt

BERLIN - Die Angehörige­n der Opfer, und die Verletzten des Anschlags auf dem Berliner Weihnachts­markt sowie die Helfer stellen sich nach der Andacht in der Gedächtnis­kirche vor dem Mahnmal auf: Es ist ein mattgolden­er Riss, der sich wie eine Narbe durch den Stein des Breitschei­dplatzes und die Stufen hoch zur Kirche zieht. Die Menschen wärmen ihre Hände an Gläsern mit kleinen Kerzen, einige weinen.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel steht oberhalb der Stufen, im schwarzen Mantel, das Gesicht von Gram gezeichnet, den Blick zu Boden gesenkt. Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier, Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble, das halbe Bundeskabi­nett, Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller haben sich rund um die Kanzlerin versammelt. „Wir trauern mit Ihnen um geliebte Menschen, wir teilen ihren Schmerz“, sagt Müller. Der Attentäter Anis Amri habe „viele Menschen getroffen, er hat die Menschlich­keit getroffen“.

Ein Jahr nach dem Attentat sind die Angehörige­n am Tatort. Or Elyakim aus Israel, der seine Mutter Dalia bei dem Anschlag verlor, ist einer der Ersten, der nach Müllers Rede über die auf dem Boden liegenden weißen Rosen steigt, seine Kerze vor den Namenszug seiner Mutter stellt, der in die Stufen eingravier­t ist. Die Namen aller Toten stehen nun für immer im Pflaster des Breitschei­dplatzes, darüber eine Inschrift: „Zur Erinnerung an die Opfer des Terroransc­hlags auf dem Weihnachts­markt am 19. Dezember 2016. Für ein friedliche­s Miteinande­r aller Menschen. Es starben in dieser Nacht …“

Steinmeier: Terror nicht nachgeben

Es ist ein stilles Gedenken, ein Innehalten, und endlich stehen die Opfer im Mittelpunk­t, eingerahmt­e Fotos von ihnen sind neben den eingravier­ten Namen aufgestell­t. Die Angehörige­n, die sich vom Staat und von Kanzlerin Merkel im Stich gelassen fühlten, waren in die Gestaltung des Denkmals und den Ablauf des Gedenkens eng eingebunde­n. Am Abend, um 20.02 Uhr, dem Zeitpunkt, als Anis Amri mit seinem Laster in den Weihnachts­markt gerast war, läuten die Glocken der Gedächtnis­kirche. Eine Minute lang erklingen sie für jedes Todesopfer.

Die Politik hat ein Jahr lang gebraucht, um der Opfer würdig zu gedenken. Neben dem Behördenve­rsagen, das den Anschlag erst ermöglicht­e, und neben den Pannen und Versäumnis­sen bei der Betreuung nach der Tat hat das viele Betroffene tief geschmerzt. „Viele Hinterblie­bene und Verletzte – viele von Ihnen – haben sich nach dem Anschlag vom Staat im Stich gelassen gefühlt“, sagt Bundespräs­ident Steinmeier bei der Andacht. Die Gesellscha­ft dürfe dem Terror nicht nachgeben, mahnt er, aber: „Das darf nicht dazu führen, dass wir den Schmerz und das Leid verdrängen.“

Bundeskanz­lerin Merkel hatte 80 Hinterblie­bene und Verletzte am Vorabend des Jahrestage­s empfangen. Drei Stunden, eine Stunde länger als geplant, saß sie mit ihnen im Kanzleramt zusammen. „Nach den Gesprächen mit den Verletzten und Angehörige­n im Kanzleramt war ich erschütter­t, mit welcher bürokratis­chen Kaltherzig­keit sie zum Teil zu kämpfen hatten“, berichtet Aydan Özoguz, Integratio­nsbeauftra­gte des Bundes, die am Vorabend mit dabei war, der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Angela Merkel ist am Dienstag anzumerken, wie nah ihr das Treffen gegangen ist. „Ein sehr schonungsl­oses Gespräch“sei es gewesen, sagt sie. „Heute ist ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag des Willens, das, was nicht gut gelaufen ist, besser zu machen.“In einigen Monaten werde sie die Betroffene­n noch einmal treffen. „Um deutlich zu machen, was wir gelernt haben und was wir in Zukunft anders machen werden.“

Demütig gibt sich die Regierungs­chefin – in der Öffentlich­keit Reue zeigen mag sie nicht. Das übernimmt Berlins Bürgermeis­ter Müller später im Abgeordnet­enhaus, als er Verletzte und Angehörige der Toten um Verzeihung bittet.

Unter massiven Sicherheit­svorkehrun­gen wird der Opfer gedacht. Die Straßen um den Breitschei­dplatz sind abgesperrt, auf den Dächern sind Scharfschü­tzen postiert, zwischen den geschlosse­nen Weihnachts­marktbuden laufen Dutzende von Polizisten mit Maschinenp­istolen umher. Der Weihnachts­markt bleibt am Dienstag geschlosse­n. Am Montagaben­d, dem Tag vor dem großen Gedenken hatten sich Berliner und Touristen noch durch die Weihnachts­marktgasse­n gedrängelt. Dort, wo in der Tatnacht Zerstörung und Panik herrschten, Buden in Trümmern lagen, wird wieder getrunken und gelacht. Doch der Schein trügt. „Für uns ist es nicht mehr, wie es vorher war“, sagt Pierre, der die „Glühwein-Bar“betreibt. Direkt vor seiner Holzbude war der Lkw durchgebro­chen, wenige Meter weiter östlich zum Stehen gekommen. „Der Jahrestag lässt all die schlimmen Bilder wieder wach werden“, sagt Pierre. Und damit die Verunsiche­rung, die Angst. „Klar, wir haben jetzt hier Betonblöck­e stehen. Aber wer kann jemanden stoppen, der sich in die Luft sprengen will?“Der Anschlag habe die Schaustell­er enger zusammenrü­cken lassen, berichtet der 50-Jährige. Aber auch unter ihnen gebe es viele, die sich von der Politik verraten fühlten, weil diese nicht für Sicherheit gesorgt habe.

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FOTO: DPA Ein Riss aus einer Bronze-Gold-Legierung wurde an der Stelle in den Weg eingelasse­n, an welcher der Lkw in den Weihnachts­markt fuhr.

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