Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
30 Prozent weniger Zwangsmaßnahmen
Psychiater werten Pilotprojekt auf der geschlossenen Station als Erfolg.
SIGMARINGEN - Nach einem Jahr Pilotphase ist das „Sigmaringer Modell“zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen auf der geschlossenen Station der Psychiatrie am SRH-Klinikum Sigmaringen nun abgeschlossen – mit Erfolg. Laut Oberarzt Dr. Alex Theodor Gogolkiewicz und Chefarzt Dr. Frank-Thomas Bopp gab es im Versuchszeitraum zwischen dem 1. August 2016 bis 31. Juli 2017 in der geschlossenen Station der Psychiatrie rund 29,4 Prozent weniger Zwangsmaßnahmen – bei steigender Patientenzahl. „In dem Versuchszeitraum hatten wir 27 Fälle mehr als im Vorjahresschnitt“, erklärt Gogolkiewicz. 2015 wurden bei 20,4 Prozent aller auf der geschlossenen Station der Psychiatrie behandelter Fälle eine Zwangsmaßnahme angewandt. Nun sei diese Quote auf 14,4 Prozent gesunken.
Beim Modellversuch war die Reduzierung der Häufigkeit und auch die Dauer des Einsatzes von Zwangsmaßnahmen wie Fixierung und Isolierung das Ziel (wir berichteten im vergangenen Jahr). Dabei handelt es sich um die deutschlandweit erste Adaption eines amerikanischen Leitfadens, der in den USA aber auch in anderen Ländern schon erfolgreich im Klinikalltag etabliert wurde.
Zielgruppe sind vor allem Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, sprich: Psychosen, sowie affektiven Störungen, also psychiatrische Krankheiten, welche die Stimmung betreffen – was natürlich nicht im Umkehrschluss heißt, dass alle Patienten dieser Krankheitsbilder aggressives Verhalten zeigen. Das gesamte Personal der Psychiatrie wurde in „shared-decision-making“-Workshops (englisch für: gemeinsam Entscheidungen treffen) geschult, bei denen auch Patienten und Angehörige mitentscheiden dürfen, wie dem Einsatz von Zwangsmaßnahmen individuell vorgebeugt werden könnte.
Zudem gab es für das Personal Deeskalationstrategie- und Kriseninterventionstrainings. „Die meisten Zwangsmaßnahmen werden statistisch gesehen in den ersten drei Tagen des Aufenthalts des Patienten angewandt“, so Gogolkiewicz. Deshalb gelte es, aggressiven Patienten schon bei der Ankunft ein gutes Gefühl und Sicherheit zu vermitteln und sie zu beruhigen. „Viel kann man schon über Kommunikation erreichen – wenn man freundlich und fürsorglich auf den Patienten zugeht und sich in dessen Situation hineinversetzt“, so Bopp, der von einer psychotherapeutischen Grundhaltung spricht. Der vom Modellvorhaben angesprochene Patient sei häufig aufgrund seiner Krankheit übermäßig misstrauisch und ängstlich, weswegen er sich unter Umständen auch mit Gewalt wehren würde.
Hinzu komme laut Frank-Thomas Bopp noch die Tatsache, dass sich der Patient eingesperrt fühle. „Ich würde eine Öffnung der Stations-Tür der geschlossenen Station begrüßen, um diesbezüglich Druck herauszunehmen, der zu einer Verschärfung der Situation führen kann – aber dazu bräuchten wir mehr Personal“, so Bopp.
Aus der Studie wird eine Doktorarbeit
Über die Erkenntnisse aus der Pilotphase schreibt Alex Theodor Gogolkiewicz nun seine zweite Dissertation. Ein Manual, also eine Handlungsempfehlung, gibt es bereits, es kann von anderen Kliniken angewandt werden. „Üblicherweise werden solche Modelle dann im Großen repliziert“, erklärt Bopp. Es sei daher denkbar, dass beispielsweise ein Zentrum für Psychiatrie die Handlungsanweisungen adaptiere.
Am Modell wollen die Ärzte in Sigmaringen weiter festhalten und die Zahlen weiter optimieren. „Jeder Patient, der fixiert wurde, ist ein potenzieller Kandidat, künftig nicht mehr fixiert zu werden; insofern wäre das Ziel natürlich, irgendwann gar keine Zwangsmaßnahmen mehr durchführen zu müssen“, sagt Bopp. Jedoch gibt er auch die strukturellen Grenzen der Einrichtung zu bedenken: „Es bedarf auch Soft Skills, die zur Deeskalation beitragen, wie architektonischen Möglichkeiten, einer guten Wohnatmosphäre, mehr Personal und einem geschlossenen Garten.“Im fünften Stock des in den 70-er-Jahren erbauten Hauses seien die Möglichkeiten baulich limitiert. Ob auch die Psychiatrie im Zuge der Krankenhausumbaumaßnahmen architektonisch ertüchtigt wird, sei offen. Hilfreich wären laut Bopp beispielsweise ein ovaler Rundlauf, Nischen oder eine große Auslaufläche.
Flüchtlinge senken den Schnitt
„43 große Kliniken in den USA haben den Einsatz der Zwangsmaßnahmen im Schnitt um 30 Prozent senken können. Bei uns waren es fast so viele – und wir haben hier andere Voraussetzungen“, so Gogolkiewicz. Damit sind auch die etwa 130 Flüchtlinge pro Jahr gemeint, die in Folge von übermäßigem Alkohol- oder Drogenkonsum, in der Fachsprache „exogene Psychose“genannt, häufig bereits randalierend und in Handschellen von der Polizei auf die geschlossene Station gebracht würden, wo sie meist bereits am nächsten Tag wieder gehen dürften.
„In anderen Städten gibt es dafür Ausnüchterungszellen, in Sigmaringen werden sie zu uns gebracht“, so Gogolkiewicz. „Für diese Patienten fehlt uns dann der kommunikative Zugang aufgrund der Sprachbarriere“, sagt der Arzt. Wenn man diese Patienten herausrechnen würde, käme man auf eine deutlich höhere Reduzierungsquote als in den Kliniken in den USA.