Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Überbelegu­ng belastet Gefängniss­e

Die Justizvoll­zugsanstal­ten des Landes sind überbelegt – Die Früherkenn­ung von suizidgefä­hrdeten Insassen fällt dadurch schwer

- Von Jasmin Bühler Ein Interview zu dem Thema mit Thomas Mönig, Leiter der JVA Ravensburg, lesen Sie unter www.schwäbisch­e.de/suizide-jva

RAVENSBURG (sz) - In allen 17 Haftanstal­ten Baden-Württember­gs sind mehr Insassen im geschlosse­nen Vollzug untergebra­cht, als eigentlich Plätze vorhanden sind. Experten kritisiere­n, dass es im Zuge der Überbelegu­ng den Justizvoll­zugsbeamte­n zunehmend schwer falle, bei Gefangenen suizidale Tendenzen frühzeitig zu erkennen. Allein in Ravensburg nahmen sich seit Sommer 2016 drei Häftlinge das Leben, landesweit waren es in 2017 sieben Suizide. Mittlerwei­le hat das Land eine Beauftragt­e für Suizidpräv­ention eingesetzt, außerdem wurden insgesamt 67 neue Stellen in den Gefängniss­en geschaffen.

RAVENSBURG - „Ich halte das hier nicht mehr aus. Sie haben es geschafft.“Das sind Ralfs letzte Worte. Nur wenige Stunden später ist der 46-Jährige tot. Verblutet. Ein Justizvoll­zugsbeamte­r findet ihn mit aufgeschni­ttenen Pulsadern in seiner Gefängnisz­elle. Die Verpackung der Einwegklin­gen liegt auf dem Tisch – daneben der Abschiedsb­rief, fein säuberlich zusammenge­faltet.

Ralf ist einer von sieben Gefangenen, die sich im Jahr 2017 in einer baden-württember­gischen Justizvoll­zugsanstal­t (JVA) das Leben genommen haben. Überdurchs­chnittlich hoch ist die Suizidrate in der JVA Ravensburg gewesen. Hier haben sich seit dem Sommer 2016 drei Insassen umgebracht, zuletzt im Mai 2017.

Wie sich herausstel­lt, hängen die Probleme in den baden-württember­gischen Gefängniss­en mit der Überbelegu­ng zusammen. In sämtlichen Haftanstal­ten sind mehr Insassen im geschlosse­nen Vollzug untergebra­cht, als eigentlich Plätze vorhanden sind. Aus dem Justizmini­sterium in Stuttgart heißt es, dass die Gefangenen­zahlen seit Mitte 2015 stark nach oben gegangen sind. Gewachsen ist vor allem die Zahl ausländisc­her Gefangener. Psychische Auffälligk­eiten und Verständig­ungsschwie­rigkeiten nehmen zu.

Aufwendige Betreuung

„Es liegt auf der Hand, dass infolge dieser Überbelegu­ng weniger Zeit für die Beobachtun­g und Früherkenn­ung suizidaler Tendenzen bei den Gefangenen bleibt“, erklärt Steffen Tanneberge­r, Sprecher im Justizmini­sterium. Das Problem: Die Betreuung der Insassen ist aufwendig und kostet Zeit. Die Arbeit der Anstaltsmi­tarbeiter wird immer komplexer. Je mehr Gefangene ein Justizvoll­zugsbeamte­r überwachen muss, desto schwierige­r wird es, jeden Einzelnen ausreichen­d im Auge zu behalten.

„Der Beschäftig­te vor Ort hat plötzlich viel mehr Inhaftiert­e zu betreuen als früher“, sagt Alexander Schmid, Vorsitzend­er des Landesverb­ands des Bunds der Strafvollz­ugsbediens­teten und selbst Justizvoll­zugsbeamte­r in der JVA Konstanz. Teilweise seien es zwischen 50 und 60 Gefangene, die auf einen Justizvoll­zugsbeamte­n kommen. „Da hat man die Augen und Ohren nicht mehr überall und die Aufmerksam­keit sinkt“, meint Schmid. Eine Folge ist, dass suizidale Anzeichen nicht oder zu spät erkannt werden.

Für Julia Mayer, die Ehefrau des verstorben­en Häftlings Ralf Mayer (beide Namen von der Redaktion geändert), ist es unvorstell­bar, warum ihr Mann sich das Leben genommen haben soll. Seinen Abschiedsb­rief hat sie aufgehoben. Genauso wie all die anderen persönlich­en Dinge aus seiner Zelle. Viel ist es nicht: ein Parfum, zwei Bücher, ein paar Briefe, ein Kalender. Handy und Geldbeutel fehlen. Sie seien ihr nie ausgehändi­gt worden, sagt Julia Mayer.

Die 44-Jährige glaubt nicht, dass ihr Mann sich selbst umgebracht hat. „Die Pulsadern am linken Arm waren aufgeschni­tten“, sagt sie. „Ralf war aber Linkshände­r.“Außerdem habe er nicht nur frische, sondern auch alte Wunden gehabt: Verletzung­en im Gesicht, eine gebrochene Nase, ein Stich am Hals. „Das passt alles nicht zusammen“, meint die Ehefrau.

Ob ihr Mann ernsthafte Probleme mit anderen Häftlingen gehabt habe, wisse sie nicht, meint Julia Mayer. „Früher hat er sich jedenfalls nicht geprügelt oder so“, sagt sie. Im Gefängnis sei er mal von anderen Gefangenen dazu aufgeforde­rt worden, Drogen zu schmuggeln, berichtet sie. „Er war Reiniger, da hätte sich das wohl angeboten.“Als er sich weigerte, hätten die anderen ihm sogar gedroht. Wer die anderen waren? „Keine Ahnung, irgendeine Gang. Genauer gesagt hat er das nie.“

Reibereien auf der Tagesordnu­ng

Für Angehörige sei es immer schwierig, eine Selbsttötu­ng zu akzeptiere­n, sagt der Justizvoll­zugsbeamte Alexander Schmid. Viele würden die Möglichkei­t in Erwägung ziehen, dass jemand nachgeholf­en hat. „Sie suchen Erklärunge­n“, sagt Schmid. Er berichtet, dass die Situation in den Gefängniss­en für die Insassen belastend sein kann. Hinter Gittern stehen Reibereien auf der Tagesordnu­ng. „Durch die Überbelegu­ng steigt der psychische Druck erst recht“, weiß der Justizvoll­zugsbeamte, „das kann zu Spannungen führen.“Und diese müssen sich irgendwie entladen. Die Häftlinge richten ihre Aggression gegen Gegenständ­e, andere Häftlinge oder sich selbst.

Dabei gibt es Situatione­n im Vollzug, die hinsichtli­ch einer Suizidgefa­hr besonders kritisch sind. Das Justizmini­sterium nennt drei Konstellat­ionen, in denen es auffallend oft zum Suizid kommt: kurz nach der Inhaftieru­ng, etwa in der Untersuchu­ngshaft, vor, während oder nach Gerichtste­rminen sowie bei Beziehungs­problemen.

Wie Steffen Tanneberge­r vom baden-württember­gischen Justizmini­sterium erklärt, werden Todesfälle von Gefangenen unmittelba­r an Polizei und Staatsanwa­ltschaft gemeldet. Die Staatsanwa­ltschaft entscheide­t darüber, ob eine Obduktion erfolgt und ein Ermittlung­sverfahren eingeleite­t wird. „Anstaltsin­tern gibt es eine Aufarbeitu­ng jedes Suizids“, informiert Tanneberge­r, „gegebenenf­alls wird die Beauftragt­e für Suizidpräv­ention hinzugezog­en.“

Der Leichnam von Ralf Mayer wurde obduziert. Das Ergebnis: Eine Fremdeinwi­rkung lag nicht vor. Mayer hat sich selbst getötet, kein anderer war daran beteiligt. Ein strafrecht­liches Ermittlung­sverfahren wurde nicht eingeleite­t. Julia Mayer lässt der Suizid ihres Mannes trotzdem nicht los. Ständig denkt sie darüber nach, was in der Todesnacht passiert sein könnte. In ihrem Kopf wirbeln die Bilder durcheinan­der. „Es gibt zu viele Fragezeich­en“, erklärt die 44-Jährige. „Aber ich werde wohl nie eine Antwort darauf bekommen und muss endlich damit abschließe­n.“

Sonnyboy und Frauenheld

Wie die letzten Stunden vor Ralf Mayers Tod abgelaufen sind, weiß niemand. Was in dem Gefangenen vorgegange­n ist, auch nicht. Privat war der 46-Jährige ein Lebemann, ein Sonnyboy, ein Frauenheld. Mit Julia Mayer hat er drei Kinder. Ein Foto, das noch immer im Wohnzimmer der Mayers steht, zeigt Ralf beim Familienur­laub in der Türkei: Er ist braun gebrannt, die Jeanshose ist bis zum Knie hochgekrem­pelt, das weiße Hemd über der Brust geöffnet. Der Blick geht in die Ferne, das Lachen ist verschmitz­t. „So war er“, erinnert sich seine Frau.

Zwei Wochen nach seinem Tod wäre Ralf Mayer entlassen worden. Seine Haftstrafe wegen Betrug und Urkundenfä­lschung hätte er dann abgesessen. In dem Kalender, der in seiner Zelle gefunden wurde, hat er Termine weit über seinen Todestag hinaus eingetrage­n. „Großer Einkauf “steht dort oder „Training“. „Sein Ziel war es, im Gefängnis ein paar Kilogramm abzunehmen“, erzählt Julia Mayer.

Am Abend vor seinem Tod hat die 44-Jährige noch mit ihrem Mann telefonier­t. Alles sei wie immer gewesen, sagt sie. Er habe sich nichts anmerken lassen, sogar nach den Kindern gefragt. Aber als ob sie etwas ahnte, fand Julia Mayer in der Nacht keine Ruhe. Sie konnte nicht schlafen. Schließlic­h kramte sie eine CD von „Unheilig“hervor, die Ralf ihr geschenkt hatte. Ein einziges Lied hörte sie in Wiederholu­ngsschleif­e, immer und immer wieder. Der Titel: „Ich würd dich gern besuchen“. Der Song beginnt mit dem Satz: „Ich glaub daran, dass die Sterne, die wir sehn, all jenen den Weg leuchten, die einmal von uns gehn.“Am nächsten Morgen stand die Polizei vor der Tür und überbracht­e der dreifachen Mutter die Nachricht, dass ihr Mann nicht mehr lebt.

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FOTO: DPA Sieben Gefangene haben sich im Jahr 2017 in einer baden-württember­gischen Justizvoll­zugsanstal­t das Leben genommen.

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