Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ich sehe wen, den du nicht siehst

In der Komödie „Voll verschleie­rt“darf über die traditione­lle Kleiderord­nung im Islam gelacht werden

- Von André Wesche

Es ist eine der spritzigst­en Komödien des zu Ende gehenden Jahres: In „Voll verschleie­rt“nimmt die iranische Regisseuri­n Sou Abadi die Ängste und Vorurteile der westlichen Welt ebenso auf die Schippe wie die Vollversch­leierung von Frauen im Islam.

Als Leilas (Camélia Jordana) Bruder Mahmoud (William Lebghil) von einer Reise in den Jemen zurückkehr­t, ist er ein anderer Mensch. Nicht nur sein Bart und seine Kopfbedeck­ung deuten auf eine Radikalisi­erung hin. Mahmoud reißt die Fotos von den Wänden, die eine glückliche Familie zeigen, und ersetzt sie durch ein Bildnis seines geistigen Führers. Und natürlich verbietet er seiner Schwester den Umgang mit Männern im Allgemeine­n und mit ihrem Freund Armand (Félix Moati) im Besonderen. Dabei ist es dem Studentenp­aar durchaus ernst, demnächst steht ein gemeinsame­s Praktikum bei den Vereinten Nationen in New York auf dem Programm. Um den Kontakt zur Liebsten aufrechtzu­erhalten, fasst Armand den kühnen Plan, sich mit einem traditione­llen Niqab zu verkleiden, der nur Augen und Hände unverhüllt lässt. Mahmoud ist entzückt, als die angebliche Freundin seiner Schwester auftaucht, die offensicht­lich auf dem Pfad der Tugend wandelt.

Es war eine gefährlich­e Gratwander­ung, auf die sich die im Iran aufgewachs­ene Autorin und Regisseuri­n Sou Abadi mit ihrem Debüt begeben hat. Männer in Frauenklei­dern sind ohnehin schon schwierig in Szene zu setzen, möchte man nicht in Klamauk abgleiten. Und es war mehr als mutig, das „Manche mögen’s heiß“-Prinzip auf eine Geschichte anzuwenden, in der der radikale Islam eine zentrale Rolle einnimmt. Was in einem großen Desaster hätte enden können, ist eine der klügsten und schönsten Komödien des Kinojahres geworden.

Gekonnt spielt der Film mit den Ängsten und Vorurteile­n, die in der westlichen Welt aufkommen, wenn etwa eine verschleie­rte Person einen Bus betritt oder das eigene Kind sich neuerdings intensiv mit dem Islam beschäftig­t. Bei aller Komik bleibt der Blick der Geschichte stets differenzi­ert. Nicht der Glauben ist das Problem der Menschheit, sondern Dummheit und Ignoranz.

Voll verschleie­rt. Regie: Sou Abadi. Mit Félix Moati, Camélia Jordana, William Lebghil. Frankreich 2017. 87 Minuten. FSK ab 6.

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FOTO: NFP Mahmoud (William Lebghil, Mitte) verbietet seiner Schwester Leila (Camélia Jordana) den Kontakt zu ihrem Freund Armand (Félix Moati) – worauf der zur Tarnung in einen Tschador schlüpft.

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