Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Hoffnung auf den Neuanfang in schwieriger Zeit
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und mehrere Minister reisen zu westeuropäischen Staatschefs
ISTANBUL - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Minister besuchen westeuropäische Amtskollegen, die sie lange gemieden haben – und lassen vorab ungewöhnlich versöhnliche Töne erklingen. So sprach Erdogan von „alten Freunden“, mit denen er „keine Probleme“habe – vor einigen Monaten waren diese noch „Nazis“und „Islamfeinde“. Der Präsident wird an diesem Freitag zu seinem ersten Frankreich-besuch seit zwei Jahren in Paris erwartet. Außenminister Mevlüt Cavusoglu fliegt am Samstag zu Gesprächen mit Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) nach Deutschland. Hinter der Reisedioplomatie steht eine taktische Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik.
Dreh- und Angelpunkt der Neuentdeckung der „alten Freunde“in Europa sind die im kommenden Jahr anstehenden Wahlen in der Türkei, bei denen Erdogan das von ihm geforderte Präsidialsystem vollenden will. Unter anderem aus wirtschaftlichen Gründen will Erdogan vor dem Wahlkampf die türkischen Beziehungen zu den EU-Staaten normalisieren.
Deutschland hatte im Streit um die Inhaftierung von Bundesbürgern in der Türkei die staatlichen HermesBürgschaften für Türkei-Geschäfte deutscher Unternehmen begrenzt. Die Inhaftierung des „Welt“-Korrespondenten sorgt seit Monaten für diplomatische Spannungen zwischen beiden Ländern. Das türkische Justizministerium hat in einer Stellungnahme an das türkische Verfassungsgericht die Terror-Vorwürfe gegen Yücel bekräftigt, wie die Welt online am Donnerstag berichtete.
Auch politische Motive befördern die Wiederannäherung an die Europäer. Im Nahen Osten ist die Türkei isoliert. Das Verhältnis zu den USA, dem wichtigsten westlichen Verbündeten, ist ebenfalls zerrüttet. Hinter der amerikanischen Unterstützung für die Kurden in Syrien wittert die Türkei eine Verschwörung gegen die Regierung Erdogan.
Jüngster Anlass für Kritik an den USA ist das Urteil eines New Yorker Gerichts gegen den hochrangigen Manager einer staatlichen türkischen Halkbank, Mehmet Hakan Atilla, we- gen Verstößen gegen amerikanische Iran-Sanktionen; in dem Prozess waren Korruptionsvorwürfe gegen Erdogans Regierung laut geworden. Atilla ist schuldig gesprochen unter anderem wegen Bankbetrugs und der Verschwörung zur Geldwäsche. Durch seine Tricks – und mit Erdogans Zustimmung – wurden Milliardengeschäfte zwischen der Türkei und dem Iran möglich und Sanktionen der USA umgangen, so die Jury. Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin verdammte das Urteil am Donnerstag als „Skandal“. Vizepremier Bekir Bozdag sagte, mit dem Prozess solle der Türkei eine „politische Falle“gestellt werden.
Taktisches Manöver
Vor diesem Hintergrund ist Erdogans ausgestreckte Hand Richtung Europa als taktisches Manöver zu sehen, sagt Aykan Erdemir, ein ehemaliger türkischer Parlamentsabgeordneter, der für die Denkfabrik Foundation for Defense of Democracies in Washington arbeitet. Erdogan betrachte die Wiederannäherung als „transaktionale“Aktion, von der er sich Vorteile für die Türkei verspreche, sagte Erdemir der „Schwäbischen Zeitung“. Einen grundsätzlichen Wandel hin zu einer pro-europäischen Politik kann Erdemir nicht erkennen: Erdogan werde zu seiner „feindseligen Rhetorik“zurückkehren, wenn es seinen wahltaktischen Überlegungen entspreche. Differenzen zwischen der Türkei und der EU beim Thema Menschenrechte bleiben, auch gibt es keine Hinweise auf Bemühungen um eine Wiederbelebung des türkischen EU-Beitrittsprozesses.
In Frankreich will sich Erdogan mit Präsident Emmanuel Macron über die gemeinsame Kritik an der US-Entscheidung zur Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und über einen Ausbau der Handelsbeziehungen unterhalten. Auch bei Cavusoglus Besuch in Deutschland geht es darum, verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen. Den Anfang hatten Cavusoglu und Gabriel im November bei einem Treffen in Antalya gemacht. Ob die Bemühungen Erfolg haben werden, ist offen.