Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Alles baumelt
5Euro ins Phrasenschwein!“Zuschauer der Talkshow „Doppelpass“auf Sport1 kennen diesen Spruch. Wenn einer der geladenen Sportler oder Journalisten im Eifer des Wortgefechts eine besonders abgedroschene Redewendung gebraucht, muss er 5 Euro berappen. Dieses Phrasenschwein ist aber auch über die Sendung hinaus zu einem Begriff geworden. Warum? Weil es in allen Medien – Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, Werbetexten etc. – von abgenutzten Floskeln nur so wimmelt.
Ein Beispiel, das sich in den Tagen nach Silvester aufdrängt: die Seele baumeln lassen. Zu den inflationär verbreiteten Ratschlägen für das neue Jahr gehört es, fortan jeden Stress zu meiden, zu sich selbst zu finden – und einfach mal die Seele baumeln zu lassen. Die baumelt dann auch allüberall: ob in Wellness-Hotels oder Yoga-Studios, auf Wanderfreizeiten oder Luxusdampfern. Wobei wohl die wenigsten darüber nachdenken, was denn eigentlich passiert, wenn etwas so Immaterielles, Spirituelles, religiös und philosophisch Aufgeladenes wie die menschliche Seele hin- und herschaukelt.
Nun haben Journalisten, weil sie wissen, dass sie nicht gefeit sind gegen ausgelutschte Phrasen, zum Selbstschutz Warnsysteme installiert: Etwa besagtes Phrasenschwein. Oder das Internetportal floskelwolke.de. Oder die Rubrik Floskel des Monats im Verbandsorgan „Journalist“. Das ehrt sie. Es kann auch nicht schaden, wenn da die Sinne geschärft werden. Wenn nicht permanent jemand das Handtuch wirft, Fersengeld gibt, sein Steckenpferd reitet, eine Kuh vom Eis holt, die Katze im Sack kauftoder bis an die Zähne bewaffnet ist. Wenn nicht ständig Gras über eine Sache wächst, der zündende Funke überspringt, die Talsohle durchschritten ist – oder derzeit hochaktuell – zwischen koalitionsunwilligen Parteien die Chemie nicht stimmt und sie nicht miteinander ins Bett steigen wollen. Warum Schreiber zu Floskeln tendieren, liegt auf der Hand. Meistens waren solche Wortschöpfungen irgendwann einmal originell. Weil sie dann aber auch andere originell fanden, wurden sie nachgeplappert – bis die Luft raus war. Auch eine Floskel. Die Seele baumeln lassen ist übrigens ein schlagendes Beispiel für diese These: 1926 schrieb Kurt Tucholsky einen Text zum Thema Sommerfrische für die „Weltbühne“, und darin ließ er es erstmals baumeln:
„Auf den Wegen stapfen unwirsche Norddeutsche, Sachsen, als Diroler verkleidet, und solange sie nicht den Mund auftun, ist die Täuschung vollkommen: dann hält man sie für Berliner. Die Männer sehen alle viereckig aus, auf dem Hals tragen sie eine kleine Tonne, daran ist vorn das Gesicht befestigt. Morgens setzen sie es auf, und was für eines –! Die Frauen schlapfen daher. Alles baumelt an ihnen, auch die Seele…“
Typisch Tucholsky, locker, frech, witzig. Und heute nur noch Futter fürs Phrasenschwein. Übrigens heißt es langsam auch bei diesem Phrasenschwein aufzupassen. Sonst wird es selbst ein Fall für selbiges.