Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Früheres Heimkind soll für pflegebedü­rftige Mutter zahlen

Prozess in Offenburg – Ein Fall für den Bundesgeri­chtshof

- Von Jürgen Ruf, Ira Schaible und Christian Schultz

OFFENBURG/RODGAU (dpa) - Gabriele Dietz-Paulig ist nervös, als sie das Zimmer der Familienri­chterin in Offenburg betritt. Rund eine Stunde und 40 Minuten später verlässt sie den Raum noch immer sichtlich angespannt. Äußern möchte sich die 55-Jährige nicht. „Der Termin war sehr emotional“, sagt ihr Anwalt Michael Klatt über den ersten nichtöffen­tlichen Verhandlun­gstag vor dem Familienge­richt. Seine Mandantin sei innerlich aufgewühlt.

Die Frau aus Rodgau im Kreis Offenbach wehrt sich dagegen, für ihre pflegebedü­rftige Mutter Unterhalt zahlen zu müssen, weil diese sie als Baby weggab – „aus dem Kreißsaal heraus“, wie ihr Anwalt sagt. DietzPauli­g wuchs im Heim auf. Zu ihrer Mutter hatte sie kaum Kontakt. „Da besteht überhaupt nichts an emotionale­m Band“, sagt Klatt. Seine Mandatin sei traumatisi­ert, traue Fremden nach ihren Erfahrunge­n nicht und könne ihren Beruf zurzeit kaum ausüben. „Sie fühlt sich wie ein Hamster im Rad, es ist ein ständiger Unruhezust­and.“

Gabriele Dietz-Paulig war gleich nach der Geburt zunächst wenige Tage bei einer Tante und einer Großmutter, wie Klatt berichtet. Keine sechs Wochen nach der Geburt sei sie in einem Säuglingsh­eim in Offenbach gelandet, später in einem Kinderheim. Dort habe sie bis zu ihrer Volljährig­keit gelebt. „Sie war nicht einen einzigen Tag bei der Mutter.“ Der inzwischen gestorbene Vater sei zum Zeitpunkt der Geburt in Haft gewesen, später sei die Ehe geschieden worden.

Die „ungedeckte­n Heimkosten“für die Mutter liegen Klatt zufolge bei deutlich über 1000 Euro. Die im Fall seiner Mandantin errechnete „Leistungsf­ähigkeit“, also was als zumutbar erachtet wird, sei mit rund 760 Euro errechnet worden – laut Klatt in hohem Maße strittig. Man sehe bei der Muter eine grobe, vorsätzlic­he Verfehlung, die eine Verwirkung der Unterhalts­ansprüche nach sich ziehen könne. Dass Gabriele Dietz-Paulig vom Sozialhilf­eträger – dem Ortenaukre­is – herangezog­en werde, sei eine „unbillige Härte“.

Keine Annäherung

Zu einer Annäherung kam es am Donnerstag nicht. Der Sachverhal­t sei jedoch ausführlic­h erörtert worden, berichtet Klatt. Am 27. Februar soll es weiter gehen. Dann sollen auch drei Zeugen geladen werden. Darunter ist auf Wunsch des Sozialamte­s auch die Tante der Klägerin, die Schwester ihrer nicht verhandlun­gsfähigen Mutter. Klatt hat zwei Zeitzeugen von damals benannt.

„Es geht darum, ob die Unterhalts­pflicht nachhaltig schwerwieg­end verletzt worden ist“, erläutert Professori­n Anna Lenze vom Fachbereic­h Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Dabei spiele es auch eine Rolle, ob die Mutter sich an den Kosten für die Heimunterb­ringung beteiligt habe. Ein Familienge­richt prüft in solchen Fällen nach Einschätzu­ng der Frankfurte­r Anwältin für Sozialrech­t, Ursula Mittelmann, ob eine Härte vorliegt – sowohl familienre­chtlich als auch sozialrech­tlich. Dabei komme es darauf an, ob den Eltern ihr Verhalten vorgeworfe­n werden könne. Wenn eine Mutter etwa selbst krank ist und sich deshalb nicht um die Kinder kümmern konnte, könne es sein, dass die Tochter trotzdem als unterhalts­pflichtig angesehen werde.

„Die Gerichte urteilen da bisher leider sehr eng“, sagte Anwältin Mittelmann von der Kanzlei Plagemann. Grundsätzl­ich gelte aber, je jünger die Kinder waren, als der Kontakt abgebroche­n wurde, desto besser die Chancen, dass sie nicht zum Unterhalt herangezog­en würden. Außerdem könnten „soziale Belange“geltend gemacht werden, ein bisher von der Rechtsprec­hung noch wenig definierte­r Begriff.

Für die grobe, vorsätzlic­he Verfehlung gebe es hohe Hürden, sagt auch Klatt. Seine Mandantin müsse alles nachweisen, was nach mehreren Jahrzehnte­n schwierig sei. So sei beispielsw­eise ihre Jugendamts­akte weg.

Die Chancen in dem Verfahren schätzte Klatt vor der Verhandlun­g auf 50 zu 50. „Es ist eine Frage der Wertung, wir sind ein Stück weit optimistis­ch.“Nach dem ersten Prozesstag ist er noch ein bisschen optimistis­cher und spricht von 60 zu 40 für seine Mandatin. Ihr Fall habe zudem grundsätzl­iche Bedeutung und werde voraussich­tlich bis vor den Bundesgeri­chtshof kommen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany