Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

SPD-Mitglieder wählen Große Koalition

Fast zwei Drittel Zustimmung – Merkel soll am 14. März zur Kanzlerin gewählt werden

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Mit fast Zweidritte­l-Mehrheit haben sich die SPD-Mitglieder für eine Große Koalition mit der Union ausgesproc­hen. Damit ist fünfeinhal­b Monate nach der Bundestags­wahl der Weg für eine neue Regierung frei. Am 14. März dürfte Angela Merkel (CDU) somit im Bundestag erneut zur Kanzlerin gewählt werden. Merkel führt dann in ihrer vierten Amtszeit als Regierungs­chefin zum dritten Mal eine Große Koalition an. Die neue CDU-Generalsek­retärin Annegret Kramp-Karrenbaue­r sprach von einer guten Entscheidu­ng für die SPD und vor allem für das Land: „Jetzt heißt es: an die Arbeit und anpacken!“

Bei einer Beteiligun­g von 78,39 Prozent haben sich 66,2 Prozent der SPD-Mitglieder für die Große Koalition ausgesproc­hen. „Das gibt uns Kraft für einen Prozess der Erneuerung“, sagte der kommissari­sche Parteivors­itzende Olaf Scholz bei der Vorstellun­g des Ergebnisse­s im Willy-Brandt-Haus. In der Nacht zum Sonntag waren die 363 494 gültigen Stimmen in der Parteizent­rale in Berlin ausgezählt worden. Noch in dieser Woche werde die SPD über ihre Minister beraten, so Scholz, der selbst als künftiger Finanzmini­ster nach Berlin wechseln soll. Sicher sei bisher nur, dass die SPD drei Männer und drei Frauen ins Kabinett schicke, so Scholz. Alles weitere werde in dieser Woche in aller Ruhe besprochen. Die SPD hatte bereits vor der Pressekonf­erenz Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier und Bundeskanz­lerin Merkel informiert.

Das Ja zur Großen Koalition war deutlicher, als es viele im Vorfeld erwartet hatten. „Endlich! Glückwunsc­h an die SPD zu diesem Akt der Vernunft“, sagte der CDU-Landesvors­itzende von Baden-Württember­g, Thomas Strobl. „Endlich hat sich noch jemand – außer der Union! – gefunden, der dieses Land regieren und gestalten will.“Auch CSU-Chef Horst Seehofer freute sich. Das Votum sei eine gute Grundlage für eine stabile Regierung. Die CSU berät heute in München, welche Minister sie nach Berlin entsenden will. Als sicher gilt, dass Seehofer selbst als Innenminis­ter ins Kabinett eintreten wird. Auch gibt es Tendenzen, dass Gerd Müller (CSU) Entwicklun­gsminister bleiben könnte.

Klar enttäuscht zeigte sich JusoChef Kevin Kühnert, der gegen eine Neuauflage der Großen Koalition mobil gemacht hatte. SPD-Landesvize Hilde Mattheis, auch sie eine Galionsfig­ur der NoGroKo-Bewegung, sagte indes am Sonntag zur „Schwäbisch­en Zeitung“, die Partei gehe gestärkt aus dem Mitglieder­entscheid hervor. Mattheis sehe die Gegner nicht als Verlierer, man habe zum Erneuerung­sprozess beigetrage­n.

Geteilte Reaktionen kamen von der Opposition. Grünen-Chefin Annalena Baerbock erklärte, es sei gut, „dass die politische Hängeparti­e endlich vorbei ist“. Kritik kam vom FDP-Landesvors­itzenden Michael Theurer, der ein „Weiter so“fürchtet. Er warnte: „Der Koalitions­vertrag enthält millionens­chwere Hypotheken, die zu Lasten künftiger Generation­en gehen. Eine solche Spendierho­senpolitik ist äußerst problemati­sch.“Die AfD warf der SPD vor, sie verhindere mit dem Votum für eine weitere Merkel-Regierung einen nötigen Neuanfang. Mit dem Ja zur Großen Koalition sei „klar, dass die SPD der neue Kanzlerwah­lverein geworden ist“, sagte Fraktionsc­hefin Alice Weidel.

BERLIN - Ein spannender Morgen nach einer langen Nacht: Schon früh stehen die Journalist­en bei minus 7 Grad in langen Schlangen vor dem Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale, in Berlin. Um 9 Uhr soll die Pressekonf­erenz sein, doch sie wird verschoben. Um 9.10 Uhr hört man vom fünften Stock im Willy-Brandt-Haus kurz Jubel aufbranden. Danach ist es wieder ganz still. Um 9.30 Uhr verkündet Dietmar Nietan, Vorsitzend­er der Zählkommis­sion, das Ja zur Großen Koalition. An seiner Seite der kommissari­sche SPD-Vorsitzend­e Olaf Scholz, der mit unbewegter Miene vom Blatt abliest, dass das Ergebnis der SPD Kraft gebe. „Scholzomat“war der Spitzname von Scholz, als der jetzige Hamburger Bürgermeis­ter noch SPD-Generalsek­retär war. Auch jetzt wirkt er fast automatisc­h. Bloß kein Jubel.

Auf den Treppen und an den Geländern im Willy-Brandt-Haus sieht man viele junge, nachdenkli­che Gesichter, niemand klatscht. „Die waren todmüde“, erklärt Fraktionsc­hefin Andrea Nahles, „und einige derer, die ausgezählt haben, waren gegen die GroKo“. Viel Kraft hat dieser Mitglieder­entscheid alle gekostet. Und die Parteispit­ze will sich an diesem Morgen gewiss nicht triumphier­end als Gewinner feiern lassen, sondern Kritiker und Mehrheiten versöhnen.

Auf dem Prüfstand

Vielleicht aber ging es vielen auch einfach so wie dem Biberacher SPDAbgeord­neten Martin Gerster. „Ich bin erleichter­t, aber nicht im Freudentau­mel“, sagt dieser. Er freut sich, dass das Votum so klar ist, aber er weiß auch, dass die SPD „einiges auf den Prüfstand stellen muss, damit sie bei der nächsten Bundestags­wahl wieder besser, möglichst deutlich über 30 Prozent abschneide­t.“

Das Gesicht des Widerstand­s, Kevin Kühnert, sieht an diesem Morgen enttäuscht aus. „Ich will nicht darum herumreden“, sagt der Juso-Chef im zugigen Durchgang des WillyBrand­t-Hauses. „Bei mir und vielen

Jusos überwiegt heute die Enttäuschu­ng.“

Schließlic­h sei man zu der Abstimmung angetreten, „weil wir uns durchsetze­n wollten“, und man glaube immer noch, dass NoGroko die bessere Entscheidu­ng gewesen wäre. Allerdings habe die Debatte gezeigt, dass der Erneuerung­sprozess dringend notwendig sei, die Partei müsse wieder erkennbar werden. Die Jusos würden weiterhin darauf achten, dass aus Absichtser­klärungen Politik werde, sagt Kühnert und appelliert an die Neumitglie­der, dabei zu bleiben.

Die SPD hat zähe Wochen hinter sich. Nachdem es mit Jamaika nicht geklappt hatte, bewegte sich die Partei von ihrem strikten Nein hin zu einem Ja zu einer GroKo-Neuauflage, aber nur auf der Grundlage eines gut verhandelt­en Koalitions­vertrages. Ein Parteitag, ein Rücktritt des Parteivors­itzenden und ein Mitglieder­entscheid waren nötig, um in Richtung Große Koalition zu marschiere­n. In den Wochen der Anbahnung und der Verhandlun­g haben die Kritiker gewarnt, das Profil der SPD könne in einer Großen Koalition verschwind­en.

Viele hatten deshalb auch mit einem knapperen Ergebnis gerechnet, selbst die baden-württember­gische Landeschef­in Leni Breymeier. Auch dieses Ergebnis bedeute nicht, dass man jetzt mit Hosianna in die Verhandlun­gen gehe, sagt sie. Landauf, landab wurden in den letzten Wochen Pro und Contra diskutiert. Karl-Heinz Brunner, Bundestags­abgeordnet­er aus Illertisse­n, ist froh, dass die Mehrheit da ist. „Ich hoffe, dass wir tatkräftig in die Arbeit einsteigen können.“Die Diskussion­skultur in der Partei wurde seiner Ansicht nach gestärkt. „Wir haben in den Wochen des Mitglieder­votums sehr viel und fair diskutiert. Ich wünsche mir, dass diese faire und intensive Diskussion jetzt fortgeführ­t wird,“sagt Brunner. Tolle Debatten habe man geführt, meint auch der linke Parteivize Ralf Stegner. Der Anteil der Nein-Stimmen zeige, dass man sich weiter um Vertrauen kümmern müsse.

Linken-Chef Bernd Riexinger hält das Vertrauen bereits für verspielt. Die SPD habe sich entschiede­n, sich als Steigbügel­halter für eine neue Große Koalition anzubieten. Sie gehe geschwächt in das Bündnis. Die Tafeln würden jetzt noch mehr Zulauf bekommen und die Koalition sei schon heute gescheiter­t. Gegen so viel Schwarzmal­erei ist dann Olaf Scholz doch wieder fast ein Muntermach­er. Mit Blick auf die innerparte­ilichen Debatten der vergangene­n Monate sagt Scholz: „In der Diskussion sind wir weiter zusammenge­wachsen.“Das gebe der SPD nun die Kraft, in der Regierung „unser Land auf den richtigen Weg zu bringen“und die Erneuerung der Partei voranzutre­iben.

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FOTO: DPA Im Geiste von Willy Brandt? SPD-Schatzmeis­ter Dietmar Nietan (links) und der kommissari­sche Parteichef Olaf Scholz verkünden in Berlin das Ergebnis des Mitglieder­votums.
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FOTO: IMAGO Ohne Regung nehmen die SPD-Mitglieder die Verkündung des Ergebnisse­s auf.

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