Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Politiker müssen erkennen: Europa ist auch ihr Projekt“
Günther Oettinger fordert neue Asylregeln zur Entlastung, aber auch ein klareres Bekenntnis zu Europa
BRÜSSEL - Italien benötigt eine handlungsfähige Regierung, analysiert EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) im Interview mit Tobias Schmidt die Folgen der italienischen Wahl für Europa.
Herr Oettinger, in Italien haben EU-Gegner und Rechtspopulisten die Wahl gewonnen. Zieht hier die nächste große Krise für die EU auf ?
Die Regierungsbildung in Italien wird nicht einfach. Eine proeuropäische Regierung ist unwahrscheinlich. Ich traue den Italienern aber zu, dass sie zu Kompromissen bereit sind. Im Interesse ihrer Wirtschaft und der staatlichen Bonität und im Interesse der Stabilität des Euros wird in absehbarer Zeit eine handlungsfähige Regierung in Rom benötigt.
Und wenn nicht?
Die amtierende Regierung kann weiter für Stabilität sorgen. Sie genießt das uneingeschränkte Vertrauen der Märkte und der europäischen Partner.
Trägt die Europäische Union eine Mitverantwortung für den Wahlausgang?
Es ist richtig, dass die Probleme durch Migration in den südlichen EU-Ländern wesentlich größer sind als zum Beispiel in Irland. Wir werden künftig mehr tun müssen, um Italien, Griechenland, Malta, Zypern und Bulgarien zu unterstützen. Die EU-Kommission ist auch der Meinung, dass die europäischen Asylregeln geändert werden sollten, um die Hauptankunftsländer zu entlasten. Viele Mitgliedstaaten sind dagegen. Auch das deutsche materielle Asylrecht muss angepasst werden, um die Magnetfunktion zu stoppen. Die meisten Flüchtlinge wollen ja nicht in Italien bleiben, sondern nach Deutschland, Österreich oder Schweden weiterziehen. Die deutschen Asylleistungen gehören zu den höchsten EU-weit. Die Verfahrensdauer ist besonders lang und die Rückführungsquote sehr gering. So lange sich daran nichts ändert, wird es schwierig werden, die Dublin-Regeln zu ändern.
Ist die EU in einer Existenzkrise?
Wir brauchen dringend mehr Botschafter des europäischen Projektes auf allen Ebenen! Die Italiener haben nicht gegen die EU gewählt. Sie haben mehrheitlich gegen das Sparen und Reformieren gestimmt, das die Euroregeln vorschreiben. Auch Herr Renzi von den Sozialdemokraten hat immer gegen die EU gewettert – und krachend verloren. Macron hat in Frankreich mit einem klar proeuropäischen Wahlkampf triumphal gewonnen. Nationale Politiker müssen endlich erkennen: Europa ist auch ihr Projekt und nicht nur das Projekt von „denen da“in Brüssel.
Ist das auch ein Appell an die künftige Bundesregierung?
Es ist höchste Zeit, dass eine neue Regierung nun wieder mit voller Autorität im Rat der Mitgliedstaaten auftreten kann. Die Tagesordnung ist dicht gepackt und muss vor der Europawahl im kommenden Jahr abgearbeitet werden. Ich begrüße das Signal, dass die Große Koalition mehr Geld für den EU-Haushalt bereitstellen wird, wie es im Koalitionsvertrag steht. Wir erbitten Geld von den Mitgliedstaaten für europäische Programme, mit denen sich ein echter Mehrwert erzielen lässt, weil sie effizienter, und in meisten Fällen auch kostengünstiger sind, als wenn 27 nationale Programme parallel laufen.