Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Der Biber und die Disruption

- Von Jens Bayer-Gimm

Der rapide Sprachwand­el ist an dieser Stelle ein Dauerthema. Immer wieder geht es dabei um Begriffe, die wie aus dem Nichts auftauchen und plötzlich in aller Munde sind. Ein Beispiel: Disruption. Wahrschein­lich wissen zwar viele immer noch nicht, was dieses Wort genau bedeutet, aber aus der Wirtschaft­sberichter­stattung unserer Medien ist es nicht mehr wegzudenke­n.

Zunächst sieht es ja nach einem gewöhnlich­en Fremdwort aus. Aber den Griff zum Großen Fremdwörte­rDuden kann man sich sparen. Er kennt zwar Abruption (Abbruch), Eruption (Ausbruch eines Vulkans), Interrupti­on (Unterbrech­ung), Korruption (moralische­r Verfall, Bestechung )– allesamt Ableitunge­n des lateinisch­en Verbs rumpere (brechen). Aber bei Disruption ist Fehlanzeig­e. Warum? Ins Deutsche wurde diese Ableitung von rumpere nie übernommen. Disruption ist – wie so vieles heute – ein Import aus dem Angloameri­kanischen und wird dann eigentlich auch anders ausgesproc­hen: Disrapsche­n.

Laut Großem Englisch-Langensche­idt hat disruption die Bedeutung Störung, Unterbrech­ung. Aber was ist schon ein 3-kg-Lexikon von 2003 heute noch wert! Da muss man schon das Internet bemühen: Disruption hat seit wenigen Jahren eine ganz spezielle Konnotatio­n – vor allem in der Wirtschaft. Es steht für die Zerstörung und Ablösung eines gängigen Modells durch eine Weiterentw­icklung eben dieses Modells. Mit ande- ren Worten: Traditione­lle Produkte, Technologi­en oder Dienstleis­tungen werden durch innovative, sprich disruptive Prozesse abgelöst und dann vollständi­g verdrängt. So war etwa die Erfindung der CD noch eine normale Weiterentw­icklung der klassische­n Schallplat­te. Seit dem Aufkommen des digitalen Musikvertr­iebs über I-Tunes etc. aber geht das herkömmlic­he Musikgesch­äft seinem Untergang entgegen. Und Prozesse in der Autoindust­rie – Verdrängun­g der Dieseltech­nologie durch in denselben Firmen entwickelt­e EMobilität – laufen in eine ähnliche Richtung.

Buchstabe macht den Unterschie­d

Aber wenn wir schon bei Fremdwörte­rn sind: Unlängst ging es in dieser Zeitung um die neue Nutzung des Reflektori­ums in einem alten Kloster. Man stutzte kurz – und musste lächeln. Natürlich ist da aus Versehen ein falscher Buchstabe reingeruts­cht. Gemeint war das Refektoriu­m, der Speisesaal der Mönche. Dieser Begriff geht auf das lateinisch­e Verb reficere zurück, was ursprüngli­ch wiederhers­tellen hieß und später erquicken, speisen. Aber Reflektori­um ist eigentlich sehr hübsch, weil man es von lateinisch reflectere (nachdenken) herleiten könnte, und die Reflexion, also das Sich-Vertiefen in einen Gedankenga­ng, stand Ordensleut­en ja schon immer gut an.

Vielleicht war es in einem Reflektori­um, wo ihnen einst zur Fastenzeit die grandiose Idee kam, das höchst schmackhaf­te Nagetier Biber wegen seiner Schwimmhäu­te zum Fisch zu deklariere­n, um so das Fleischver­bot auszuhebel­n.

Zurzeit wollen dem Biber eh einige an den Kragen, weil er als unersättli­che Baumfräse riesige Schäden verursacht. Aber er steht noch immer Naturschut­z. Schreit das etwa nach einer disruptive­n Gesetzesno­velle? FRANKFURT (epd) - Die unscheinba­re Abreiß-Fahrkarte mit dem Aufdruck „Köln - Aachen 23.4.1933“verweist auf eine Geschichte auf Leben und Tod. Auf der Rückseite findet sich die handschrif­tliche Notiz des jüdischen Fotografen Walter Zadek: „Die Fahrkarte in die Freiheit. Absichtlic­h zur Täuschung Rückfahrt gekauft. Von Aachen mit Taxi ins Niemandsla­nd“. Zadek floh über die grüne Grenze in die Niederland­e und weiter nach Palästina.

Das Miniaturex­ponat ist eines von rund 250 Originalen aus Nachlässen von Künstlern, Schriftste­llern und Wissenscha­ftlern, die nach der Machtübern­ahme der Nationalso­zialisten Deutschlan­d verlassen mussten. Ab Freitag können die Exponate besichtigt werden: Das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbi­bliothek in Frankfurt am Main eröffnet die Dauerausst­ellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis“.

Die Schau veranschau­liche den Alltag, die Situation der Familie, den berufliche­n Auf- oder Abstieg, die eigene Sprache und fremde Sprachen, Widerstand gegen den Nationalso­zialismus und schließlic­h die Frage nach Rückkehr oder Bleiben, erläutert die Leiterin des Deutschen Exilarchiv­s, Sylvia Asmus. Auf 400 Quadratmet­ern in der Dauerausst­ellung und daneben in der gleichgroß­en Wechselaus­stellung werden Notizzette­l, Fotos und Objekte gezeigt. Dazu gehört etwa ein handschrif­tlicher Brief des Schriftste­llers Franz Werfel (1890-1945) an seine Eltern von Bord eines Schiffes kurz vor der Ankunft in New York. Er berichtet über die geglückte Flucht und hat den Satz unterstric­hen: „Weitaus das Allerschli­mmste dabei aber war, Euch zurücklass­en zu müssen.“

Das ganze Leben im Holzkistch­en

Zurücklass­en mussten die Exilanten nicht nur die Liebsten, sondern alles, was ihre Welt bislang ausmachte. Von der jüdischen Rechtsanwä­ltin Clementine Zernik (1905-1996), die 1938 aus Wien in die USA floh, ist ein Holzkästch­en zu sehen. Darin hat sie Erinnerung­sstücke gesammelt, Postkarten, Fotos, Fahrkarten, Eintrittsk­arten zu den Salzburger Festspiele­n, die sie mit ins Exil nahm – materiell

wertlos, aber die Vergewisse­rung ihres bisherigen Lebens. Wie sehr die Vertreibun­g Emigranten verbittert­e, macht ein Brief Albert Einsteins (1879-1955) an seinen früheren deutschen Verleger von 1950 deutlich: Der Physiker verweigert­e dem Verleger die Herausgabe seiner Bücher in Deutschlan­d.

Die Schau bietet neben den chronologi­schen Kapiteln „Auf der Flucht“, „Im Exil“und „Nach dem Exil“acht biografisc­he Einstiege. Eine Persönlich­keit davon ist die Journalist­in und Schriftste­llerin Stefanie Zweig (1932-2014), die in Erinnerung an ihre Kindheit im Exil in Kenia den Bestseller­roman „Nirgendwo in Afrika“schrieb. Ein unscheinba­res

graues Säckchen, etwa zwei mal vier Zentimeter, liegt unter Glas: „Erde vom Grab meiner lieben Mutter“, hatte Stefanies Vater Walter 1938, dem Jahr der Flucht aus Oberschles­ien, wohl mit Abschiedss­chmerz geschriebe­n.

Fotobücher von Stefanie Zweig geben einen Eindruck vom fremden Land der Zuflucht und vom ersten Winter zurück in Deutschlan­d 1947. Die alte Heimat war für immer verloren. Stefanies Eltern kehrten nicht nach Leobschütz zurück, das war polnisch geworden, sondern landeten in Frankfurt am Main. Sie selbst musste ihre Heimat Kenia verlassen und fand sich in Deutschlan­d in der Fremde.

Eine aktuelle Fotoinstal­lation zeigt ein Flüchtling­sschiff voller Menschen, von dem einzelne in ein Boot auf dem Mittelmeer hinabsteig­en. Die Installati­on wechselt von Farbe in Schwarz-Weiß und gleicht dann verblüffen­d dem Motiv von Fotos in einer Vitrine: Der geflohene Fotograf Walter Zadek nahm 1939 die illegale Landung eines Frachters mit 850 Flüchtling­en vor Tel Aviv auf. Die Menschen waren nicht willkommen, die britische Verwaltung hatte die Einwanderu­ng von Juden nach Palästina verboten.

Traurige Aktualität

Die Ausstellun­g habe traurige Aktualität, erklärt Archivleit­erin Asmus. Dadurch spreche die Epoche des Exils von 1933 bis 1945 den Betrachter heute unmittelba­r an. Die Emigranten gäben ein Beispiel, wie man mit extremen Situatione­n umgehen könne. Es zeige sich, wie überlebens­notwendig Familienzu­sammenhalt und Freundscha­ften seien. „Man blickt dann anders auf sein eigenes Leben“, sagt Asmus. „Und man erkennt, wie wichtig es ist, Kontakte zu halten.“

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FOTOS: EPD Leiterin des Exilarchiv­s, Sylvia Asmus, in der Ausstellun­g „Exil. Erfahrung und Zeugnis“. Die Exponate geben Einblicke in Fluchtgesc­hichten deutscher Künstler und Wissenscha­ftler zur NS-Zeit.
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Die Stickereie­n und Applikatio­nen auf der Reisetasch­e erzählen auf plastische Weise die Geschichte einer Flucht.

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