Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Knappe Mehrheit als Dämpfer für Angela Merkel

171 Tage nach der Wahl ist die neue Regierung im Amt – Steinmeier: Demokratie steht vor Bewährungs­probe

- Von Andreas Herholz

BERLIN - Plötzlich herrscht Stille. Nur ein, zwei Sekunden lang, aber es wirkt wie eine beklemmend­e Ewigkeit. Dort, wo sonst Jubel laut wird und Beifall aufbraust, Abgeordnet­e von ihren Sesseln aufspringe­n, ist es einen Moment lang ruhig, als Wolfgang Schäuble das Ergebnis bekannt gibt. 364 Stimmen für Angela Merkel, nur neun mehr als nötig, mindestens 35 Parlamenta­rier aus den Reihen der Großen Koalition haben der Kanzlerin ihre Stimme verweigert. Dann geht ein Raunen durch den Plenarsaal, und schließlic­h gibt es doch noch Applaus.

Ein kurzer Schockmome­nt, dann haben sich Merkel und ihre Fraktion wieder gefangen. Die Kanzlerin wirkt erleichter­t, strahlt, so, als sei eine Last von ihr gefallen. Geschafft! „Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an“, antwortet sie dem Bundestags­präsidente­n. Wolfgang Schäuble wünscht ihr „Gottes Segen bei der Bewältigun­g Ihrer großen Aufgabe“.

Merkel nickt kurz, zuckt mit den Achseln, so, als wolle sie sagen „was soll’s“. Der Dämpfer ist für sie nur ein kleiner Schönheits­fehler. Um 9.53 Uhr ist Merkel erneut zur Bundeskanz­lerin gewählt. Doch ein guter Start sieht anders aus. Von Aufbruch und Dynamik, wie sie die Große Koalition verspricht, ist an diesem Mittwochmo­rgen unter der Reichstags­kuppel nicht viel zu spüren.

Vorzeitige­s Ende prophezeit

25 Minuten lang werden die Namen der Abgeordnet­en einzeln aufgerufen, die ihre Stimme geheim in Wahlkabine­n am Rande des Plenums abgeben, von A wie Abercron bis Z wie Zimmermann. 20 Minuten lang wird ausgezählt, dann ist klar: Die alte Kanzlerin ist auch die neue.

Unionsfrak­tionschef Volker Kauder gratuliert zuerst. Auch der gescheiter­te SPD-Chef und –Kanzlerkan­didat Martin Schulz reiht sich in das Defilee der Gratulante­n ein.

Die knappe Mehrheit bei der Wahl und die vielen Gegenstimm­en, ein Makel gleich zu Beginn der vierten Amtszeit? Merkels Vertraute winken ab. Gegenstimm­en habe es immer gegeben. Angesichts der schwierige­n Regierungs­bildung und der Widerständ­e in der SPD wäre man auch nicht überrascht gewesen, wenn es erst im zweiten Wahlgang eine Mehrheit gegeben hätte, heißt es aus dem Umfeld der Kanzlerin, versucht man, das Ergebnis schönzured­en. Doch ist es alles andere als ein Traumstart. „Das war knapp und ist ein schlechtes Omen“, mäkeln Merkel-Kritiker wie der konservati­ve CDU-Mann Alexander Mitsch und prophezeie­n der Großen Koalition ein vorzeitige­s Ende.

Wer hat aus den eigenen schwarzrot­en Reihen gegen Merkel votiert? SPD-Fraktionsc­hefin Andrea Nahles gibt sich überrascht angesichts der knappen Mehrheit. „Es waren mehr Gegenstimm­en, als ich erwartet hätte“, sagt sie. Doch sei die SPD „sehr geschlosse­n“gewesen. Sie könne sich nur wundern, vermutet Nahles auch Abweichler bei der Union. Mehrheit sei Mehrheit und entscheide­nd sei, dass Merkel wieder Kanzlerin sei, winkt Unionsfrak­tionschef Volker Kauder ab – dabei war noch am Vortag mit einer „überzeugen­den Mehrheit“gerechnet worden.

Zurück vom Bundespräs­identen und ihrer offizielle­n Ernennung im Schloss Bellevue nimmt Merkel – cremefarbe­ner Blazer, schwarze Hose – im Bundestag wieder auf der Regierungs­bank Platz. „... so wahr mir Gott helfe!“Um 12.02 Uhr ist es geschafft. Die Kanzlerin spricht die letzten Worte ihres Amtseides. Bundestags­präsident Schäuble gratuliert noch einmal, die Abgeordnet­en erheben sich und applaudier­en. Diesmal gibt es auch Beifall von den Sozialdemo­kraten und der Opposition. Nur bei der AfD rührt sich keine Hand. Start frei in die nächste Amtszeit: Merkel, die Vierte.

Der Zeitplan an diesem Tag ist eng getaktet bei diesem „Hochamt der Demokratie“. Viel Zeit zum Feiern bleibt zunächst nicht. Die Kanzlerin zieht sich mit ihrer Familie und engsten Weggefährt­en in ihr Büro im Reichstag zurück. Merkel und ihr neues Kabinett pendeln an diesem Tag zwischen Parlament und Präsidiala­mt, wo es auch für die Minister die Ernennungs­urkunde und mahnende Wort gibt.

Steinmeier mahnt

„Willkommen Bundesregi­erung. Das wurde aber auch Zeit“, begrüßt Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier Merkel und ihr neues Kabinett im Schloss Bellevue. Fast ein halbes Jahr, 171 Tage nach der Bundestags­wahl, zeigt sich auch das Staatsober­haupt erleichter­t, warnt aber auch: „Ein schlichter Neuaufguss des Alten“werde nicht reichen, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzuge­winnen. Die Bundesregi­erung müsse sich neu und anders bewähren, fordert Steinmeier. Die neue Regierung sei gut beraten im Gespräch mit den Bürgerinne­n und Bürgern, „genau hinzuhören und hinzuschau­en, auch auf die alltäglich­en Konflikte im Land“, rät das Staatsober­haupt. Über Themen wie Flüchtling­spolitik und Migration, Integratio­n und Heimat müssten „offene und ehrliche Debatten“geführt werden. Es sei gut, „dass die Zeit der Ungewisshe­it und Verunsiche­rung vorbei ist“, sagt Steinmeier. Schließlic­h stehe die Demokratie vor einer Bewährungs­probe. Bereits am Nachmittag kam die Regierung im Kanzleramt zur ersten Kabinettss­itzung zusammen.

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FOTO: DPA Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) legt ihren Amtseid vor Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) ab.

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