Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Keinerlei Aufbruchsi­gnale“

Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler rät Merkel nach zwei Jahren zum Rückzug

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BERLIN - Professor Herfried Münkler, Politikwis­senschaftl­er an der Humboldt-Universitä­t Berlin, wirft Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Gespräch mit Tobias Schmidt vor, sie würde Probleme verwalten, anstatt zu gestalten.

Ist die knappe Wiederwahl von Kanzlerin Angela Merkel der Start einer freudlosen Regierung?

Das Ergebnis spiegelt die mühseligen Verhandlun­gen bei der Koalitions­bildung wider. Und es zeigt, dass wir uns in einer grundlegen­d anderen politische­n Lage als in den letzten 70 Jahren befinden.

Was ist anders?

In der Vergangenh­eit wurde entweder eine Regierung der rechten Mitte oder der linken Mitte gebildet. Bis 1998 hing alles an der FDP, seitdem an FDP und Grünen. Jetzt haben wir ein Parlament, in dem 25 Prozent der Abgeordnet­en aus verschiede­nen Gründen für eine Regierungs­beteiligun­g nicht infrage kommen. Es bleiben nur 75 Prozent zum Regieren. Für die Parteien diesseits der politische­n Ränder wird es nahezu unmöglich, scharfe Konturen zu entwickeln. Die Gefahr besteht, dass die AfD davon auf Dauer profitiere­n kann.

Dämmert Deutschlan­d nun dreieinhal­b Jahre vor sich hin?

Nein, einen Dämmerzust­and sehe ich nicht. Aber auch keinerlei Aufbruchsi­gnale. Es stehen mühsame Aufgaben an. Die EU muss zusammenge­halten werden. Die Digitalisi­erungsagen­da begeistert die Menschen nicht. In der Sozialpoli­tik wird an einigen Stellschra­uben gedreht … Die Kanzlerin selbst kann gar nicht für Aufbruch stehen. Sie verwaltet Probleme, anstatt zu gestalten. Die Politik ist konturlos geworden und wird nach allen Seiten abgesicher­t. Horst Seehofer hat dafür die Formel „Politik für den kleinen Mann“ausgegeben. Wen soll das vom Hocker reißen?

Sollte die Kanzlerin zur Halbzeit den Stab übergeben?

Die Kanzlerin wäre klug beraten, nach zwei Jahren den Weg frei zu machen. Das wäre das Richtige, um den selbstbest­immten Abschied aus der Politik zu schaffen. Vermutlich hatte sie dies schon 2015 vor, doch dann kam die Flüchtling­skrise. Zur GroKo-Halbzeit wird Bilanz gezogen und sich zeigen, ob Schwarz-Rot hält. Das wäre der gescheite Zeitpunkt für den Stabwechse­l, damit in der verbleiben­den Zeit mit Blick auf die Bundestags­wahl 2021 ein Nachfolger oder eine Nachfolger­in aufgebaut werden kann.

Annegret Kramp-Karrenbaue­r oder Jens Spahn: Wer hat die besseren Chancen?

Wenn es nach der Kanzlerin geht, natürlich Frau Kramp-Karrenbaue­r. Sie geht auch deutlich geschickte­r vor als Herr Spahn. Der hat mit seinem Bestreben, auf sich aufmerksam zu machen, in den vergangene­n Tagen kein Fettnäpfch­en ausgelasse­n. KrampKarre­nbauer müsste es schaffen, als Generalsek­retärin schon einmal die Rolle der Parteichef­in einzuüben. Wenn es der neuen Generalsek­retärin gelingt, eine eigene Kontur der CDU sichtbar zu machen, hätte sie gute Chancen.

Wäre es sinnvoll, die Anzahl der Amtszeiten von Regierungs­chefs zu begrenzen?

Das würde nur Sinn machen, wenn der Bundeskanz­ler direkt vom Volk gewählt würde und eine größere Machtfülle hätte. In der Bundesrepu­blik wird in Koalitions­verhandlun­gen geklärt, wer Kanzler wird. Wenn diese Entscheidu­ng der Parteien verfassung­srechtlich eingeschrä­nkt würde, hätte dies noch komplizier­tere Koalitions­verhandlun­gen zur Folge. Daran kann wirklich niemandem gelegen sein.

Droht ein Erstarken populistis­cher Kräfte am linken und rechten Rand?

Für Linkspopul­isten sehe ich wenige Chancen. Eine schwere ökonomisch­e Krise, die ihnen in die Hände spielen würde, ist nicht in Sicht. Auf die Linksparte­i werden in den nächsten Jahren sehr schwere Zeiten zukommen. Bei den Rechtspopu­listen ist es anders. Die FDP unter Christian Lindner hat sich neu aufgestell­t und postiert sich rechts von der CDU. Ihr Ziel: Stimmen aus dem bürgerlich­en Lager, die diesmal an die AfD gegangen sind, zu erobern – und somit in die Regierungs­fähigkeit zurückzuho­len. Das könnte der FDP eher gelingen als der CDU, weil die FDP nicht in der Regierung sitzt. Die AfD selbst wird 2021 als Koalitions­partner nicht infrage kommen. Dazu sind bei ihr zu viele Rechtsextr­eme versammelt.

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FOTO: JULIA NIMKE Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler sieht eine „grundlegen­d andere politische Lage als in den letzten 70 Jahren“.

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