Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Auf der anderen Seite von Disney World

„The Florida Project“zeigt den ungeschönt­en Lebensallt­ag jenseits der Sonnenseit­e

- Von Stefan Rother

Unter dem Namen „The Florida Project“entwickelt­e Walt Disney in den 1960er-Jahren seinen Freizeitpa­rk in Orlando. Heute rangiert dieser unter dem Namen Walt Disney World als meistbesuc­htes Freizeitre­ssort der Welt. Für die Bewohner des „Magic Castle“ist er allerdings in unerreichb­arer Ferne – obwohl sie ganz in seiner Nähe wohnen. Denn hinter dem klangvolle­n Namen verbirgt sich ein herunterge­kommenes Motel, in dem ein Gutteil der Gäste de facto dauerhaft wohnt, weil sie sich keine andere Unterkunft leisten können und das Geld für die Übernachtu­ng Tag für Tag verdienen müssen.

Halley (Bria Vinaite) ist eine von ihnen. Obwohl erst Anfang 20, hat sie bereits eine sechsjähri­ge Tochter, Moonee (Brooklynn Prince). Über die Vorgeschic­hte der beiden erfährt man fast nichts – nur vage, dass Halley mal als Tänzerin gearbeitet hat. Jetzt verkauft sie Touristen auf den Parkplätze­n billige Parfümimit­ate, lässt sich von einer befreundet­en Bedienung mit Essen versorgen und verbringt ansonsten einen guten Teil des Tages mit Rauchen und Fernsehen. Klingt deprimiere­nd – ist es für Tochter Moonee aber nicht. Mit ihren gleichaltr­igen Freunden streift das aufgeweckt­e Mädchen weitgehend unbeaufsic­htigt durch die Gegend und stellt reichlich Unfug an. Der kindlichen Fantasie sind dabei wenige Grenzen gesetzt – statt einer Disney-Safari gibt es Tiere auf der Weide, statt einem Spukhaus leer stehende Apartments zu erkunden. Doch auch wenn der gutherzige Hotelmanag­er Bobby (Willem Dafoe) das Mutter-Tochter-Duo immer wieder unterstütz­t, lässt sich die Abwärtsspi­rale der Prekarität kaum aufhalten.

Filmemache­r Sean Baker ist vor allem an Gruppen jenseits des gesellscha­ftlichen Mainstream­s interessie­rt, deren Leben er sich mit unkonventi­onellen Methoden nähert. So wurde „Tangerine L.A.“, sein Film über Transgende­r-Prostituie­rte, komplett mit dem iPhone gefilmt. In seiner neuen Produktion wählt er überwiegen­d die Kinderpers­pektive, ist dabei aber vom rührselige­n Disney-Kitsch weit entfernt. Sonderlich viel Handlung sollte man hier nicht erwarten, dafür wird der Alltag auf Amerikas Schattense­ite im sonnigen Florida lebensnah vermittelt. Dazu tragen die Darsteller erheblich bei. Für viele, wie Naturtalen­t Brooklynn oder Bria Vinaite, die Baker auf Instagram entdeckte, ist es das Regiedebüt. Dazu gesellen sich die realen Bewohner der Motels, in denen während der Dreharbeit­en der Betrieb weiterging.

Nur wenig Hollywood -Glanz

Einziger bekannter Name ist Hollywood-Veteran Willem Dafoe, der für die tiefe Menschlich­keit, die er in seine knorrige Filmfigur legt, sehr verdient eine Oscar-Nominierun­g als bester Nebendarst­eller erhielt. Wer bereit ist, auf einige Filmkonven­tionen zu verzichten, dem werden die Menschen im „Magic Castle“und ihre Schicksale noch lange nachgehen.

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FOTO: PROKINO VERLEIH Das Mutter-Tochter-Duo (Bria Vinaite, links und Brooklynn Prince) versucht mühsam, sich über Wasser zu halten.

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