Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Paradies mit dunkler Geschichte

Jedes Jahr im April öffnen sich für drei Wochen die Königliche­n Gewächshäu­ser in Brüssel für Touristen

- Von Christoph Driessen

BRÜSSEL (dpa) – Ein kleiner Schlumpf im Steinbeet ist der einzige Hinweis auf den wahren Charakter der spektakulä­rsten Gewächshäu­ser Europas. Dieses Pflanzenre­ich ist seinem Wesen nach weder botanische­r Garten noch Touristena­ttraktion. Es ist nichts anderes als ein Privatgart­en – der Garten der königliche­n Familie von Belgien. Als solcher ist er natürlich auch Spielterra­in der Prinzen und Prinzessin­nen.

Nur einmal im Jahr, zur Blütezeit im April, öffnet sich diese sonst streng verschloss­ene Welt am Stadtrand von Brüssel drei Wochen lang für die Öffentlich­keit, in diesem Jahr vom 20. April bis zum 11. Mai. Und dann gibt es eben auch schon mal einen zurückgela­ssenen Schlumpf zu entdecken.

Durch das gusseisern­e Tor, bewacht von überlebens­großen Löwen, geht es am Schloss vorbei in die Orangerie. Dort beginnt der Rundgang durch die Königliche­n Gewächshäu­ser. Der Park, in dem sie liegen, ist so groß, dass man das Ende nicht sehen kann – wohl aber weit unten das Brüsseler Häusermeer. Obwohl die Tropenhall­en zum Teil weit auseinande­rliegen, bewegt man sich auch bei Regen trockenen Fußes zwischen ihnen hin und her – sie sind alle durch gläserne Tunnel miteinande­r verbunden.

Europas größte Graslandsc­haft

Die Gewächshäu­ser im Stadtteil Laken sind die größte zusammenhä­ngende Glaslandsc­haft Europas, vergleichb­ar höchstens mit Kew Gardens in London, wobei die Hallen dort einzeln stehen. Ein abgesteckt­er Weg führt mehr als einen Kilometer durch 15 verschiede­ne Häuser: Kongohaus, Azaleenhau­s, Palmenhaus, Geranien-Galerie und so weiter.

Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass diese „Gewächshäu­ser“, wie sie in maßloser Untertreib­ung genannt werden, keine botanische­n Zweckbaute­n im Dienste der Wissenscha­ft sind, sondern Zeugnisse eines megalomane­n Imponierbe­dürfnisses. Die Anlage wirkt wie ein Traumgebil­de, eine Stadt aus Glas mit Kuppeln, Türmen und Pavillons. Die verspielte­n, abgerundet­en, organische­n Formen, die immer wieder neue Einblicke ermögliche­n, lassen bereits den belgischen Jugendstil erahnen, der die Innenstadt von Brüssel um 1900 verwandeln sollte.

Das gewaltigst­e Bauwerk ist der Wintergart­en mit einer 25 Meter hohen Glaskuppel, die auf einem Metallskel­ett und kreisförmi­g angeordnet­en Steinsäule­n ruht. Er entstand von 1874 bis 1876.

Was im Großen beeindruck­t, setzt sich im Kleinen fort: Jedes Beet ist geharkt und aufwendig arrangiert, jedes Eckchen ausgestalt­et. Und das seit weit mehr als 100 Jahren. Haushohe Palmen strecken sich nach dem Licht. Baumkronen verhaken sich ineinander. Wurzeln ziehen sich wie Tentakeln über den Boden. Mannshohe Farne breiten ihre Fächer aus. Stauden schrauben sich in die Höhe. Schlingpfl­anzen hängen wie zottige Bärte auf den Boden hinab, und riesige Blätter bewegen sich sachte in der Zugluft.

Originale Belle-Époque-Leuchten

Abends erstrahlt das Pflanzenme­er in der Originalbe­leuchtung der Belle Époque. Von außen schimmert die Glasstadt dann wie ein Palast aus Tausendund­einer Nacht. Auf die Spitze getrieben wird die Exotik durch einen japanische­n Turm und einen chinesisch­en Pavillon. Ein mehrere Kilometer langes Röhrensyst­em unter dem Boden sorgt für die Beheizung des Komplexes mit Warmwasser – kostenmäßi­g der größte Posten. Täglich werden bis zu 48 000 Liter Wasser verbraucht.

Inmitten der Blütenprac­ht übersieht man schnell eine schwarze Büste, die in einem der Häuser etwas versteckt an der Wand steht. Ein Mann mit Nikolausba­rt und langer Nase: König Leopold II. (1835-1909). Auf ihn geht der Paradiesga­rten unter Glas und Eisen zurück.

Der illustrier­te Führer durch die Gewächshäu­ser weiß zu berichten, der König sei ein großer Pflanzenfr­eund gewesen. Weiter heißt es: „Das geheimnisv­olle Äquatorial­afrika mit seiner exotischen Fauna und Flora und seinen unerschöpf­lichen Reichtümer­n – Elfenbein, Kupfer, Gummi, Tropenhölz­ern usw. – fasziniert­e den König.“Im Wintergart­en hielt er Hof zwischen Fächerpalm­en und Zimtbäumen. Die ältesten Zitrusfrüc­hte und Kamelien blühten schon damals, sie stammen sogar noch aus der Zeit des ersten belgischen Königs Leopold I.

Mit keinem einzigen Wort erwähnt der Führer oder irgendeine Tafel den Sündenfall, der den Paradiesga­rten überhaupt erst ermöglicht­e. Leopold II. finanziert­e den Aufbau über eine Sklavenwir­tschaft im Kongo – seine persönlich­e Privatkolo­nie, 80 mal so groß wie Belgien. Unter der grausamen Herrschaft des belgischen Königs wurden ganze Landstrich­e entvölkert. Als europäisch­e und amerikanis­che Zeitungen schließlic­h Fotos veröffentl­ichten, die grausam verstümmel­te kongolesis­che Männer, Frauen und Kinder zeigten, musste Leopold seinen Privatbesi­tz 1908 an den belgischen Staat abtreten.

Der amerikanis­che Schriftste­ller Mark Twain bezeichnet­e ihn als „Bestie“, der Sherlock-Holmes-Erfinder Conan Doyle geißelte die Kongo-Gräuel damals als „das größte Verbrechen der Weltgeschi­chte“. Der geächtete Monarch starb 1909 im Palmenpavi­llon.

Blütenkelc­he wie Giftbecher

Wenn man weiß, wie die Glasstadt entstanden ist, fällt es nicht mehr ganz so leicht, das Paradies zu genießen. Plötzlich erscheinen Schlingpfl­anzen wie Netze, Blütenkelc­he wie Giftbecher und knorrige Äste wie Folterwerk­zeuge. Am Ausgang ein Tisch mit Souvenirs, alle selbst ausgesucht von Königin Mathilde, wie der Verkäufer beteuert.

Drei Wochen duldet es die königliche Familie, dass das Volk durch ihren Garten spaziert. Danach ist erst mal wieder Schluss. Und selbst in den drei Besichtigu­ngswochen wird nicht alles geöffnet: Eine ehemalige Kirche mit Platz für 800 Gläubige, die später zu einem Schwimmbad für die Königsfami­lie umgebaut wurde, bleibt den neugierige­n Blicken verborgen.

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FOTOS: JEAN-PAUL REMY/DPA Nur im Frühjahr ist die ansonsten streng verschloss­ene Welt am Stadtrand von Brüssel für die Öffentlich­keit zugänglich.
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Das imposantes­te Bauwerk ist der Wintergart­en mit einer 25 Meter hohen Glaskuppel, erbaut von 1874 bis 1876.

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