Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Vergiftete Ost-West-Atmosphäre
Erklärung von Merkel, Macron und Trump zum Giftanschlag – US-Sanktionen gegen Russland
LONDON/MOSKAU/WASHINGTON In seltener Geschlossenheit konfrontiert der Westen Russland mit schweren Vorwürfen zu dessen internationalem Handeln. Deutschland, Frankreich und die USA stellten sich nach dem Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal im englischen Salisbury hinter Großbritannien. Scharf verlangten sie von Moskau Aufklärung. Am selben Tag verhängte die Regierung von US-Präsident Donald Trump Sanktionen gegen Russland. Bei den Sanktionen geht es um Hackerangriffe und Kampagnen während des US Präsidentschaftswahlkampfs 2016 zugunsten Trumps und um die berüchtigte Cyberattacke „NotPetya“, die vor allem die Ukraine traf.
Die britische Regierung verdächtigt Russland, an einem Giftanschlag auf Ex-Spion Skripal und dessen Tochter beteiligt gewesen zu sein. Nach britischen Angaben wurden sie Opfer des Nervengifts Nowitschok, entwickelt in der Ex-Sowjetunion. Woher der bei dem Anschlag eingesetzte Stoff stammt, ist unbekannt.
In der Erklärung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und US-Präsident Donald Trump heißt es: „Es handelt sich um einen Übergriff gegen die Souveränität des Vereinigten Königreichs.“Großbritannien habe seinen Partnern im Detail dargelegt, dass Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Verantwortung für den Anschlag trage. „Wir teilen die Einschätzung des Vereinigten Königreichs, dass es keine plausible alternative Erklärung gibt.“
Viele Experten teilen diese Einschätzung. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Münchner Universität der Bundeswehr, sagte am Donnerstag zur „Schwäbischen Zeitung“: „Es muss mehr da sein als lediglich die Herkunft des Giftes. Ich gehe davon aus, dass die Briten feste Indizien dafür haben, dass es sich hier um einen Anschlag seitens der Russischen Föderation auf einen Dissidenten handelt – Erkenntnisse aus der Forensik und Geheimdienstinformationen.“
Russland zeigte sich derweil sowohl von der Solidarisierung des Westens als auch von den US-Sanktionen unbeeindruckt.
LONDON - Während die britische Premierministerin Theresa May als Antwort auf den Chemiewaffen-Anschlag von Salisbury den Rückhalt der westlichen Verbündeten gewinnt, ist die Labour-Opposition über ihre Haltung gegenüber Russland gespalten. Oppositionsführer Jeremy Corbyn hat der Regierung die Unterstützung für deren Sanktionen gegen Moskau verweigert. Dafür wurde er von Teilen der eigenen Partei scharf kritisiert.
Die Regierungschefin hatte am Mittwoch im Unterhaus die Ausweisung von 23 als Diplomaten getarnten russischen Spionen bekannt gegeben. Die ohnehin spärlichen Kontakte mit Moskau auf Regierungsebene würden eingefroren. Auch werde ungeklärten Todesfällen russischer Exilanten auf der Insel nachgegangen. Unklar blieb hingegen, ob und in welcher Weise London gegen reiche Unterstützer des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin vorgehen will, die in London Milliardenwerte investiert haben. Russische Oligarchen und deren Familienmitglieder haben den Konservativen innerhalb der vergangenen achtzehn Monate 826 100 Pfund (932 400 Euro) gespendet.
Opfer weiter in Lebensgefahr
Am Donnerstag informierte sich May vor Ort in Salisbury über den Mordanschlag gegen Sergej und Julia Skripal. Beide schweben weiter in Lebensgefahr. Der Doppelagent, 66, und seine Tochter, 33, waren am vorvergangenen Sonntag bewusstlos auf einer Parkbank im Ortszentrum der 40 000-Einwohner-Stadt gefunden worden. Die Aufmerksamkeit der mehrere hundert Beamte starken Sonderkommission richtet sich offenbar vor allem auf das Haus und den BMW des
2010 aus Russland auf die Insel gekommenen Militärexperten.
Der britische Verteidigungsminister Gavin Williamson sagte auf die Frage, ob es zu einem neuen Kalten Krieg kommen könnte: „Seien wir ehrlich, die Beziehungen sind nicht gerade gut, nicht wahr?“Sollte London über die Ausweisung von Diplomaten hinaus weitere Maßnahmen ergreifen und beispielsweise russisches Staatseigentum, etwa zur Botschaft gehörende Gebäude, beschlagnahmen, dürfte auch Moskau entsprechend reagieren.
In London veröffentlichte Mays Büro eine Erklärung, die auch von den USA, Deutschland und Frankreich unterzeichnet wurde. Darin wird „die erste offensive Anwendung eines militärischen Nervenkampfstoffes seit dem zweiten Weltkrieg“als Angriff auf die Souveränität Großbritanniens sowie als Verletzung des Völkerrechts angeprangert. Man teile die britische Einschätzung, wonach Russland „mit hoher Wahrscheinlichkeit“die Verantwortung trage. Moskau müsse das Nowitschok-Prorgramm gegenüber der Organisation zum Verbot von Chemiewaffen OPCW offenlegen.
Die Solidarität der beiden größten EU-Staaten sowie des transatlantischen Verbündeten wurde von der Londoner Regierung mit Erleichterung und Genugtuung aufgenommen. Bis Mittwoch hatten sich sowohl ein Sprecher von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als auch das Weiße Haus von US-Präsident Donald Trump deutlich zurückhaltender oder widersprüchlich geäußert.
Erstmals seit der Wahl vor neun Monaten begehren gemäßigte Sozialdemokraten gegen den weit links stehenden Labour-Chef Corbyn auf. Der 68-Jährige hatte am Mittwoch im Unterhaus vermieden, Russland für den Anschlag verantwortlich zu machen; stattdessen prangerte er Kürzungen im Budget des Außenministeriums an. Dafür wurde er am Donnerstag öffentlich von seiner verteidigungspolitischen Sprecherin Nia Griffith getadelt: „Die Position des Schattenkabinetts ist eindeutig: Wir unterstützen die Regierungsmaßnahmen.“
Selbst Verbündete Corbyns, die dem britischen Patriotismus-Reflex kritisch gegenüberstehen, beklagten den Auftritt des Labour-Chefs. Dessen Sprecher Seumas Milne goss bei einem anschließenden Gespräch mit Journalisten Öl ins Feuer, indem er die Vorgänge in Salisbury mit der Kontroverse um Saddam Husseins ABC-Waffenprogramm verglich. Im Vorfeld des Irak-Kriegs 2003 hatten die Geheimdienste von Chemiewaffen gesprochen, die sich nach der Beseitigung des Diktators als nicht-existent herausstellten.