Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Fantastische Fünf
Großes Ballett fürs Finale der Ära Anderson in Stuttgart
STUTTGART - „Made in Stuttgart“ist in der Tanzwelt ein Gütesiegel. Wen Reid Anderson, scheidender Intendant des Stuttgarter Balletts, in den vergangenen 22 Jahren als Talent erkannt hat, den förderte er. Ein Auftragswerk im Schauspielhaus galt daher als sicheres Zeichen, dass er an seine jungen Choreografen glaubte. Nun hob sich zum letzten Mal der Vorhang für seine Zöglinge: Roman Novitzky, Fabio Adorisio, Louis Stiens, Katarzyna Kozielska – und selbstverständlich Marco Goecke. Der von Andersons Nachfolger Tamas Detrich Geschmähte wirkte zum letzten Mal als Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts.
Marco Goecke verlässt Stuttgart und geht als Ballettdirektor nach Hannover. Sein „Almost blue“auf Songs von Etta James oder Antony and the Johnsons ist großartig. Mit behandschuhten Armen, nacktem Oberkörper und schwarzer Hose zaubert Alessandro Giaquinto ein stilitisch grandioses, den Körper herausforderndes Solo auf die Bühne. Andere treten hinzu. Die partielle Ausblendung des Körpers entwickelt ein aufregendes Bild. Goeckes Ästhetik ist unnachahmlich.
Fast roh, dabei aber durchaus auf Augenhöhe zu Goeckes Können wirkt Louis Stiens „Skinny“. In Rhythmen, Geräuschen, Körperbildern verweist er auf Triebe und Sehnsüchte, zeigt die Nachtseiten des Lebens. Grenzen kennt der Newcomer keine. Die Geschlechterund Ballettstereotype lösen sich bei ihm auf, wenn seine Tänzer im Kreis springen oder sich mit erhobenen Armen zu einer Gruppe zusammenrotten. Das hat Klasse.
Verneigung vor dem Ballett
Wie die Choreografie von Katarzyna Kozielska. Ihr „Take Your Pleasure Serioulsy“arbeitet faszinierend auf Spitze und weist erstmals im bisherigen Oeuvre der Polin konsequent ein eigenes, markantes Bewegungsbild aus, das Relevanz besitzt. Man kann hier von einer neuen weiblichen Ästhetik im Ballett sprechen. Kühn den Luftraum auslotend, mit Hebungen experimentierend und pointiert in der Beinführung, lässt Kozielska die Frauen souverän und stark agieren. Inhaltlich beeindrucken Mittelteil und Schluss: Die Erste Solistin Alicia Amatriain zelebriert, von sechs Tänzern gehoben, auf eine atemberaubende Komposition von Kimmo Pohjonen, einen sinnlich-selbstbewussten Pas de Sept. Ihm Gegenüber steht ein zartes Pas de deux in weiß, voller Anmut, Feinheit und Freiheit – Kozielskas Referenz an die Primaballerinen, ihre Rolle im Ballett und an sich selbst.
Eröffnet wurde der Abend mit „Under the Surface“von Novitzky und „Or Noir“von Adorisio. Letzterer lässt seine Paare in schwarzer Strumpfhose und Trikots die treibende Auftragskomposition „Even in the oddest time“von Nicky Sohn in Tanz umsetzen. Die Schwächen sind greifbar: Noch ist weder das Verhältnis der Paare zueinander geklärt noch das Verhältnis des Tanzes zur Musik. Nur Anna Osadcenko und Jason Reilly gelingt es, innerhalb der Gruppenchoreografie zum spannungs- und geheimnisvollen Ruhepol zu werden. Skepsis ist auch bei Novitzkys Kreation anzumelden. Auch wenn dessen episodische Darstellung von Paaren als Befragung, wer sie denn unter der Oberfläche seien, eifrig beklatscht wurde, überraschte die fast altbackene tänzerische Darstellung. Raffinesse und Verankerung des Themas in der Gegenwart müssen hier noch geleistet werden.