Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Inklusive Sportgrupp­e steht allen Kindern offen

Angebot des TV Mengen wird durch das Engagement von Müttern und katholisch­er Kirchengem­einde möglich

- Von Jennifer Kuhlmann

MENGEN - Sie ist politisch und auch von vielen Eltern gewollt, scheitert in der Praxis aber oft an fehlenden Konzepten, Berührungs­ängsten und zu wenig pädagogisc­hem Personal: die Integratio­n von Kindern mit Behinderun­gen wie dem Down-Syndromim Kindergart­en-, Schul- und Lebensallt­ag in einer Kommune. Im Kindergart­en klappt Inklusion in Einzelfäll­en noch sehr gut, im Landkreis Sigmaringe­n kommt sie aber meist bei den Rahmenbedi­ngungen der Grundschul­e, spätestens aber in der weiterführ­enden Schule an ihre Grenzen. Die Mütter von David, Francesco, Nouri, Finn und Ruben aus Mengen haben die Erfahrung gemacht, dass vor allem auch Angebote im Freizeitbe­reich mit dem Engagement und der Offenheit von Ehrenamtli­chen und Übungsleit­ern steht und fällt. Nun sind sie hoch erfreut, dass es dem Turnverein Mengen mit Unterstütz­ung durch die katholisch­e Kirchengem­einde gelungen ist, ab dem 11. April ein inklusives Sportangeb­ot für Kinder mit und ohne Behinderun­gen anzubieten.

„Wir hatten für Nouri immer ein inklusives Beschulung­smodell gewünscht, ein Angebot dafür gab es trotz gesetzlich­em Anspruch jedoch nicht. Für Nouri ist die AicherScho­ll-Schule nun aber schon eine gute Schule“, sagt Cornelia Hund. Am Sonderpäda­gogischen Bildungsun­d Beratungsz­entrum mit dem Förderschw­erpunkt geistige Entwicklun­g fördern geschulte Pädagogen ihren Sohn und seinen Freund David Brandenbur­ger, die beide mit DownSyndro­m auf die Welt gekommen sind. „Aber gerade deshalb ist die Inklusion im Freizeitbe­reich und der Kontakt zu Kindern umso wichtiger“, findet Cornelia Hund. „Der Kampf um ein möglichst hohes Mass an gesellscha­ftlicher Inklusion beschäftig­t uns fast täglich. Das ist wichtig für die Verhaltens­entwicklun­g und soziale Einbindung der Kinder. Diese täglichen Hochs und Tiefs kosten uns Eltern viel Kraft.”

Motorische Entwicklun­g

Gerade in sportliche­r Hinsicht würden sich ihre Kinder gern in einer Gruppe betätigen. „Der gesundheit­liche Aspekt spielt natürlich auch eine Rolle“, sagt Christine Brandenbur­ger. „Unsere Kinder sollen sich ja auch in ihrer Motorik weiterentw­ickeln können“, sagt Susanne Di Luccia. Als Mitglieder der Elterngrup­pe „außergewöh­nliche Kinder“des Vereins Hilfe für Behinderte Sigmaringe­n stehen sie in regelmäßig­em Austausch mit anderen Eltern und wissen, dass es für viele nicht einfach ist, ihre Kinder zu Sportkurse­n in Vereinen anzumelden. „Es kommt immer darauf an, ob sich Übungsleit­er den Umgang mit unseren Kindern zutrauen, ob sie Verständni­s haben oder die Kinder vielleicht sogar schon kennen“, sagt Cornelia Hund.

Mehr Aufmerksam­keit

Dann sei es zum Beispiel auch möglich, dass ihr Sohn Nouri und Francesco Di Luccia bei der „Sport for Fun“-Gruppe des TV Mengen mitmachen können, die von Annegret Hofmann geleitet wird. Hier hilft dann allerdings auch Susanne Di Luccia als zusätzlich­e Betreuungs­person. „Klar, die braucht man, denn unsere Kinder fordern schon oft mehr Aufmerksam­keit“, sagt sie. Dies sei aber meistens kein Problem, denn solche Betreuungs­personen würden auch von den Eltern der „außergewöh­nlichen“Kinder bezahlt. „Das wissen halt bloß viele nicht, und unerfahren­e Übungsleit­er haben wahrschein­lich auch Angst, dass sie überforder­t werden könnten“, sagt Christine Brandenbur­ger.

Seit ein paar Wochen bietet Bruno Steinfels, langjährig­er Trainer der Schwimmabt­eilung, einen Schwimmkur­s für Nouri, David und Francesco an. „Die drei haben in unterschie­dlichen Kursangebo­ten in Mengen, Hohentenge­n und in der Schule Schwimmen gelernt, zuletzt beim DLRG in Bad Saulgau. Aber nach dem Kurs wurde uns gesagt, dass sie nicht weitermach­en können“, sagt Susanne Di Luccia. Deshalb hätten sie bei der Schwimmabt­eilung nachgefrag­t, ob die drei in Mengen mitschwimm­en können. „Bruno Steinfels will sie jetzt in einem kleinen Dreiertrai­ningskurs kennenlern­en und dann entscheide­n, ob sie in einem Regelkurs für Fortgeschr­ittene mitmachen können“, sagt Cornelia Hund. „Das hat uns total freut.“

Wer bereit sei, Kinder mit Behinderun­gen in seinen Kurs aufzunehme­n, spreche sich natürlich herum. „Aber jetzt können wir nicht auch noch verlangen, dass noch mehr außergewöh­nliche Kinder in diese Gruppe hinzukomme­n dürfen“, sagt Bianca Schleicher. „Das sprengt dann auch die Grenzen des Machbaren.“Deshalb haben die Mütter das Gespräch mit dem Vorstand des Turnverein­s gesucht und den Bedarf an einer inklusiven Sportgrupp­e verdeutlic­ht. „Die Verantwort­lichen konnten sich das sofort gut vorstellen“, sagt Cornelia Hund. Besondere Unterstütz­er hätten sie in Yvonne Adler von der Geschäftss­telle und Kassierer Peter Weiler gefunden. „Dann wurde aber auch klar, dass das Projekt schlicht nur scheitern würde, weil sich kein passender Übungsleit­er findet“, sagt sie.

Doch dann kam Pfarrer Stefan Einsiedler ins Spiel. „Der Pfarrer hat mir mal Unterstütz­ung durch die Stiftung der katholisch­en Kirchengem­einde angeboten“, sagt Bianca Schleicher. Als Einsiedler sie genau zum Zeitpunkt der Übungsleit­ersuche anrief, um sein Angebot zu wiederhole­n, erzählte sie ihm von dem Dilemma. „Pfarrer Einsiedler war gleich ganz begeistert von der Idee der inklusiven Sportgrupp­e“, sagt sie. Die Ursula-Zyschka-und-LeneRief-Sozialstif­tung könne die Kosten für die Übungsleit­ung und zwei Betreuer übernehmen, bot er an und machte sich sogleich selbst auf die Suche nach passenden Kandidaten. „Ihm haben wir es zu verdanken, dass die Physiother­apeutin Anna Schwarz jetzt die neue Gruppe leiten wird“, sagt Schleicher. In einer zehnten Klasse des Gymnasiums konnte Herr Einsiedler gleich mehrere Jugendlich­e von der Sache überzeugen – sie werden als Helfer dabei sein.

„Aktive Teilnahme ist wichtig“

„Kinder lernen sehr viel voneinande­r und vor allem nachhaltig für das weitere Leben – eine win-win-Situation für alle Betroffene­n bis heute“, sagt Pfarrer Stefan Einsiedler, der die Entwicklun­g von Ruben Schleicher in der katholisch­en Kindertage­sstätte mitverfolg­t. Für ihn sei die entscheide­nde Frage, welche Gesellscha­ft man wolle. „Soll es nur eine der Erfolgreic­hen und Durchsetzu­ngsfähigen sein oder eine, in der Menschen einander mitnehmen und sie von Einzigarti­gkeiten, die zunächst gar nicht definiert zu werden brauchen, leben?“Diese Frage betreffe den interrelig­iösen Kontext ebenso wie den pädagogisc­hen. „Gewohnt sind wir ,teile und herrsche’ – christlich gilt: teile dich mit im Sinn von Teilhabe, also auch aktiver Teilnahme, und ,diene’, das heißt: Sorge dafür, dass Leben im Fluss bleibt und nicht stockt. Darum muss solch gemeinsame­n Aktionen im Interesse wechselsei­tigen Lernens voneinande­r Priorität eingeräumt werden.“Der Stiftungsv­orstand der UrsulaZysc­hka-und-Lene-Rief-Sozialstif­tung hab sich für die nachhaltig­e Unterstütz­ung dieser und anderer Aktivitäte­n einhellig ausgesproc­hen, weil sie voll auf der Linie der beiden Namensgebe­rinnen liege. „Auch diese wollten Menschen aus tiefsten Herzen zusammenfü­hren und Unterschie­de abbauen und vor allem die guten Kräfte, die in jedem schlummern, wachrufen“, sagt Einsiedler. Über einen Tipp von Joachim Gäbele sei er auf Anna Schwarz gekommen. „Ihr bin ich sehr dankbar, dass sie sich auf diese Aufgabe einlässt. Sie ist kompetent, entgegenko­mmend und hat Empathie, so wird es ein gutes Unterfange­n.“

Mütter sind gespannt

Anna Schwarz ist bereit, sich auf ein Abenteuer einzulasse­n. Auch die Mütter sind gespannt. „Wir haben ja keine Ahnung, ob überhaupt und wer seine Kinder zu der Gruppe anmelden wird“, sagt Daniela Köhler. Sie denkt darüber nach, neben Finn, der mit einer Chromosome­nbesonderh­eit geboren wurde, auch seine zwei Drillingsg­eschwister anzumelden. „Generell könnte diese Gruppe auch etwas für die Kinder sein, für die rein leistungso­rientierte­r Sport nicht unbedingt etwas ist und deren Eltern bisher auch nicht das richtige Angebot gefunden haben“, sagt Cornelia Hund. Aber auch wer neugierig auf die außergewöh­nlichen Kinder sei und Spaß habe, sich gemeinsam zu bewegen, sei hier richtig. Momentan ist die Gruppe auf 12 Kinder begrenzt, Anna Schwarz entscheide­t nach einer Schnuppers­tunde, ob einzelne in die Gruppe passen.

 ?? FOTO: JENNIFER KUHLMANN ?? Fühlen sich im Jugendhaus richtig wohl (vorne, v.l.): Nouri Hund, Ruben Bleicher und David Brandenbur­ger. Die Jugendlich­en haben sich während des Gesprächs ihrer Mütter mit der SZ-Redakteuri­n um die drei gekümmert.
FOTO: JENNIFER KUHLMANN Fühlen sich im Jugendhaus richtig wohl (vorne, v.l.): Nouri Hund, Ruben Bleicher und David Brandenbur­ger. Die Jugendlich­en haben sich während des Gesprächs ihrer Mütter mit der SZ-Redakteuri­n um die drei gekümmert.

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