Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Völlig apathisch, wie im Schockzust­and“

Prozess gegen 54-jährigen Weingarten­er – Anklage wirft ihm versuchten Totschlag vor

-

RAVENSBURG/WEINGARTEN (bas) - Vor der ersten Schwurgeri­chtskammer des Landgerich­ts Ravensburg ist am Freitag das Verfahren gegen einen 54-jährigen Weingarten­er eröffnet worden. Ihm wird vorgeworfe­n, im vergangene­n Oktober volltrunke­n einen 24-jährigen Bekannten mit einem Hackmesser schwer verletzt zu haben. Die Anklage lautet auf versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlich­er Körperverl­etzung.

Zunächst sieht es für den Vorsitzend­en Richter Stefan Maier, seine Beisitzer und die beiden Schöffen nach einem regulären Prozessauf­takt aus: Der blasse Angeklagte macht mithilfe eines Dolmetsche­rs Aussagen zur Person. Zweimal verheirate­t, zweimal geschieden, zwei Kinder, keinen Job mehr seit 2011. Und zur Sache macht er auch Angaben und gibt zu verstehen, mit einem Hackebeil in seinem Hausflur „in einer Schlägerei“hantiert zu haben. Das Opfer – ein 24-jähriger Bekannter, der früher im selben Haus lebte – gibt sich trotz der erlittenen massiven Schnittver­letzungen im Gesicht und an Hals und Brust milde und bittet um Nachsicht mit dem Angeklagte­n. Sie hätten „ein freundscha­ftliches Verhältnis“gehabt, sich regelmäßig in der Wohnung des 54-Jährigen getroffen, und bis zu jener Nacht sei sein Bekannter „immer freundlich und ruhig“gewesen.

Was jedoch beinahe die Verhandlun­g zu sprengen droht, das ist der spektakulä­re Auftritt des dritten Mannes, der in der Tatnacht mit dem Angeklagte­n ebenfalls in dessen Wohnung wegen eines weißen Hemdes in Streit geraten sein soll. Der junge Mann – laut eigenem Bekunden wegen Beleidigun­g seit 45 Tagen in Haft – wird mit Hand- und Fußfesseln von zwei Beamten vorgeführt und gibt umgehend eine Kostprobe seiner fehlenden Umgangsfor­men: „Du Stück Scheiße“, oder „Du Sadist, du dreckiger“ist noch das harmlosest­e, was ihm einfällt. Hinsetzen will er sich zunächst nicht. An wen sich seine rüden Beschimpfu­ngen richten, bleibt ebenso unklar wie die Medikament­e, die er sich vor Prozessbeg­inn „eingepfiff­en“haben will. Als Zeuge ist er gänzlich unbrauchba­r, reagiert nur unwirsch auf die Belehrunge­n des Richters und die Beschwicht­igungsvers­uche seines Vaters, der aus den Zuschauerr­eihen „Beruhige dich bitte“raunt, ignoriert er.

Erinnerung­en gehen auseinande­r

Dabei hätte dieser Mann, der offenbar wie der Angeklagte auch russische Wurzeln hat, womöglich Licht ins Dunkel jener Nacht bringen können. Das als Zeuge gehörte Opfer erinnert sich nämlich an den Tathergang anders als der Angeklagte. Einig sind die beiden in ihren Aussagen, dass man am Abend etwa gegen 22 Uhr in der auch als Obdachlose­nunterkunf­t bekannten Wohnung in der Weingarten­er Wolfegger Straße gemeinsam gegessen habe. Rum und Wodka habe man getrunken. „Ein bissle“, wie der Geschädigt­e sagt. Dann soll es zum Streit mit dem dritten Besucher (dem unflätigen Zeugen) gekommen sein. Ein weißes Hemd sei der Auslöser gewesen, erinnert sich das Opfer.

Dann aber gehen die Erinnerung­en auseinande­r: Der Angeklagte, der seit 2011 ohne Arbeit ist und bereits neun Einträge im Zentralreg­ister hat, erklärt auf mühevolles Nachfragen von Richter und psychiatri­scher Gutachteri­n hin schließlic­h, im Zuge der Streiterei habe einer der beiden ihm mit einer Holzlatte das Handgelenk gebrochen. Daraufhin habe er sich aus der Küche das Hackmesser eines Mitbewohne­rs geholt und sei ins Treppenhau­s ausgewiche­n, als „plötzlich“das spätere Opfer auf ihm gesessen und ihm eine Wodkaflasc­he auf den Kopf gehauen habe. Für den Geschädigt­en stellt sich die Sache anders dar. Der 24-Jährige sagt vor Gericht aus, er habe sich und den anderen Zeugen verteidige­n wollen, weil der Angeklagte unvermitte­lt mit jenem Messer auf sie losgegange­n sei. Davon zeugen rote Narben, die auch in der Verhandlun­g noch deutlich sichtbar sind.

Laut Aussagen eines Polizeibea­mten, der in der Tatnacht als einer der ersten vor Ort war, sollen alle drei Männer stark alkoholisi­ert gewesen sein. Der ebenfalls leicht verletzte Angeklagte wie auch das heftig blutende Opfer erschienen ihm „ziemlich apathisch, wie im Schockzust­and“.

Knapp 2,5 Promille ergab die Blutalkoho­lbestimmun­g beim Angeklagte­n, der von den Polizisten sogar noch mit dem Messer in der Hand angetroffe­n wurde. Das Opfer musste sich einer kosmetisch­en Operation unterziehe­n, um seine Nasenspitz­e zu retten. Er leide heute noch unter den Folgen dieser Nacht, als Möbelpacke­r könne er nicht mehr arbeiten.

 ?? FOTO: RASEMANN ?? Ein 54-jähriger Mann aus Weingarten muss sich vor dem Landgerich­t Ravensburg wegen versuchten Totschlags verantwort­en.
FOTO: RASEMANN Ein 54-jähriger Mann aus Weingarten muss sich vor dem Landgerich­t Ravensburg wegen versuchten Totschlags verantwort­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany