Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Verdächtiger leugnet Mord am Anglersee
Um Kinder vor den Gefahren des Schulwegs zu schützen, bringen viele Eltern sie mit dem Auto – und verschärfen damit die Gefahr
ULM (dpa) - Ein wegen Mordes aus sogenannter Blutrache angeklagter Mann hat zum Prozessauftakt alle Vorwürfe abgestritten. Der DeutschAlbaner beteuerte am Montag vor dem Landgericht Ulm, bei der Tötung eines 19-Jährigen an einem See nahe Erbach im Mai 2017 nicht dabei gewesen zu sein. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass der Angeklagte den Mann „heimtückisch und aus niederen Beweggründen“getötet hat. Der 46-Jährige soll den albanischen Landsmann mit einem Hammer erschlagen haben.
Morgens, Viertel vor acht, Jakob-Reiner-Straße in Weingarten, Talschule: Aus beiden Richtungen fährt ein Auto nach dem anderen vor, oft schneller als mit Tempo 30, wie eigentlich vorgeschrieben. Türen und Kofferräume öffnen sich. Kinder mit Schulranzen springen heraus, rennen Richtung Schulhof. Ein Junge auf dem Fahrrad nähert sich und muss abrupt stoppen, denn eine Mutter fährt – ohne Blick nach rechts oder links – mit ihrem Wagen auf den Gehweg. Dem Buben schenkt sie keine Beachtung, das Wendemanöver ist ihr wichtiger. Auch für den Schulbus wird es eng. Immer wieder stockt der Verkehr, entgegenkommende Autos müssen einander ausweichen. Zwischen den Fahrzeugen bahnen sich Kinder, die zu Fuß unterwegs sind, ihren Weg. „Das ist besser als Kino“, sagt eine Mutter und schüttelt den Kopf.
Täglich beobachtet die Frau gemeinsam mit anderen Müttern das Chaos vor der Schule ihrer Kinder. Deutschlandweit ist die Ursache für das Durcheinander unter dem Namen Elterntaxi bekannt. Mütter oder Väter, die ihre Kinder mit dem Auto bringen – und auch wieder abholen. Eine Spielart des Phänomens „Helikoptereltern“. Oder wie der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, den regen Hol- und Bringdienst nennt: „Transporthubschrauber“.
Nur rund jedes dritte Grundschulkind zwischen sechs und neun Jahren geht oder fährt laut einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2016 tatsächlich ohne Begleitung eines Erwachsenen zur Schule. Neuere Zahlen – etwa bezogen auf das Land Baden-Württemberg – existieren nicht. Ebenso wenig Erhebungen, die den Unterschied zwischen Stadt und Land untersuchen. In den 1970erJahren machten sich nach Angaben des Bund Naturschutz jedenfalls noch mehr als 90 Prozent der Grundschüler in Deutschland allein auf den Weg zur Schule. Woran liegt dieser Wandel? Einer der Väter, der seine Kinder mit dem Auto zur Schule bringt, beschreibt es als ein „Zeichen der Zeit“. Hendrik Heisch, Psychologe in der Schulpsychologischen Beratungsstelle in Ravensburg, sieht hinter diesem „Zeichen der Zeit“zwei Entwicklungen. Zum einen würden Kinder heute teilweise schon mit fünf Jahren eingeschult, die Sorge der Eltern sei entsprechend noch groß. Zum anderen gebe es immer weniger klassische Großfamilien, sodass die Sorge im Falle von Einzelkindern aus Sicht von Heisch tendenziell wachse. „Da machen die Eltern im Prinzip alles für das Kind“, sagt er. Ein Mittelmaß zwischen Verantwortung und Überbehütung zu finden, sei aber aus pädagogischer Sicht sehr wichtig.
Dabei sind es nicht nur die Kleinen, die den elterlichen Fahrdienst nutzen. „Wir stellen immer mehr fest, dass auch die älteren Kinder und Jugendlichen gebracht werden“, sagt Joachim Arnold von der Kreisverkehrswacht Ravensburg. Neu sei das Thema für ihn nicht, seit über zehn Jahren beschäftige ihn die „Generation Rücksitz“. „Generell muss man sagen, dass das Phänomen eher zuals abnimmt“, sagt er. Weil Arnold bei seiner Arbeit im Schulamt Markdorf immer wieder Anfragen und Hilferufe bekommt, schätzt er die Brisanz und die Aktualität des Themas im Landkreis Ravensburg als sehr hoch ein. Aus seiner Sicht ist es ein gesellschaftliches Phänomen, das durch Schulschließungen und der freien Schulwahl zusätzlich befördert werde. Auch die Frage, ob jemand auf dem flachen Land oder in der Stadt zur Schule geht, spielt eine Rolle. „Die Wunschschule liegt oft nicht mehr vor Ort. Längere Anfahrtswege und eine teilweise nicht optimale Busbeförderung oder überfüllte Busse führen dazu, dass die Eltern ihre Kinder lieber mit dem Auto zur Schule bringen.“
Wie in einem Taubenschlag
So zeigt es sich auch am Bildungszentrum St. Konrad in Ravensburg. Es ist kurz nach halb acht an einem Dienstagmorgen. Es geht zu wie in einem Taubenschlag, während dunkle Limousinen, Familienkombis und kleinere Pkw hintereinander in die Haltebucht fahren. Hupen. Das Auto geparkt, begleiten einige der Eltern ihre Kinder noch bis vor die Tür der Grundschule. Eine wissenschaftliche Studie der Bergischen Universität Wuppertal im Auftrag des ADAC bestätigt, dass das gut gemeinte Elterntaxi zum unkalkulierbaren Sicherheitsrisiko für Schulkinder werden kann. Gefährlich sei die Situation vor den Grundschulen deshalb, weil Kinder Gefahrensituationen aufgrund ihrer Größe und ihres noch eingeschränkten Sichtfelds häufig nicht richtig erkennen könnten. Tatsächlich ist die Zahl der Schulwegunfälle laut Unfallkasse Baden-Württemberg im Südwesten um knapp 14 Prozent auf 684 im Jahr 2016 gestiegen. Zahlen für 2017 liegen noch nicht vor.
Ein Hauptargument von Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto chauffieren, ist die Angst, ihre Sprösslingen den Verkehrsgefahren auszusetzen, wenn diese zu Fuß oder mit dem Rad zum Unterricht unterwegs sind. „Der Schulweg sei zu unsicher“– dieses Argument hörte Joachim Arnold immer wieder in seiner Zeit als Lehrer und Schulleiter. Vor der Grundschule des Bildungszentrums St. Konrad sagt ein Vater: Aus zeitlichen Gründen habe er seine Kinder mit dem Auto hierher gebracht. Die Familie wohnt nur drei Kilometer entfernt. Busse würden fahren, doch dann gibt er zu, dass er seinen Kindern die katastrophale Verkehrssituation vor der Schule nicht zumuten möchte. Im selben Moment ein Schmunzeln, als ihm bewusst wird, dass er selbst seinen Teil zu dieser Situation beiträgt. Sein Blick geht auf die Straße Richtung Ravensburg, wo es gerade zum allmorgendlichen Stau kommt. Die Schulbusse stehen eingeklemmt zwischen den vielen Autos.
Initiativen gegen Elterntaxis
„Eltern sind die Folgen oft nicht bewusst. Sie denken, sie tun den Kindern etwas Gutes mit dem Fahrdienst“, beklagt Anna Wiech, Mitglied des Gesamtelternbeirats der Ravensburger Schulen. Als frühere Vorsitzende des Ravensburger Kindergarten-Gesamtelternbeirats hat sie 2016 und 2017 die Aktion „Ge(h)meinsam“ins Leben gerufen. In begleitenden Laufgruppen sollten schon die Kleinsten darauf vorbereitet werden, selbstständig im Verkehrsalltag zurechtzukommen. Dieses Ziel steckt auch hinter dem Projekt „Hin und Weg“an der Grundschule Weststadt in Ravensburg. Inspiriert von „Ge(h)meinsam“laufen die Kinder einzeln, in Gruppen von zu Hause oder von vereinbarten Treffpunkten zur Schule. Organisiert ist die Aktion, die jedes Schuljahr zwei Wochen lang läuft, in Form eines Wettbewerbs, bei dem die Klasse mit der höchsten Laufquote belohnt wird. Die Hoffnung der Initiatoren: dauerhaft das Elterntaxi einzuschränken.
Auch an der Grundschule Neuwiesen ist man darum bemüht. Mit Unterstützung der Stadt Ravensburg wurden hier Elternhaltestellen initiiert. Die Taxi-Eltern bringen ihre Kinder zu diesen Sammelpunkten, die restlichen Meter zur Schule meistern die Kinder zu Fuß. Das Kultusministerium Baden-Württemberg warnt vor den Folgen der Elterntaxis für die Entwicklung von Kindern. Lernen, den Schulweg selbstständig zurückzulegen – das mache die Kinder fit fürs Lernen und fördere den Austausch mit anderen. Mit dem fehlenden Gefühl à la „Ich habe etwas geleistet“trauten sich die Kinder sonst in der Folge immer weniger zu, so sieht es Joachim Arnold von der Kreisverkehrswacht Ravensburg. Im Staatlichen Schulamt Markdorf ist er unter anderem für die Verkehrserziehung zuständig. Bei der Radfahrausbildung in den Jugendverkehrsschulen stelle er fest, dass die motorischen Fähigkeiten von Schülern zunehmend leiden. Als ehemaliger Lehrer und Schulleiter habe er die Kinder deutlich müder und passiver erlebt, als diejenigen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kamen. Die Verkehrssituation vor den Schulen sei eben nur ein Teilaspekt der Elterntaxis.
Zurück an der Talschule in Weingarten, es ist kurz nach acht Uhr. Gleich beginnt der Unterricht. Kurzer Halt mitten auf der Straße, dann rast eine junge Mutter weiter. Gerade noch rechtzeitig hat sie ihr Kind zum Unterricht gebracht. „Blitzer müsste man aufstellen“, sagt eine der Mütter, die sich hier vor der Schule versammeln, um das Verkehrstreiben zu beobachten. Sie alle bringen ihre Kinder selbst mit dem Auto zur Schule, betonen aber, dass sie auf dem nahegelegenen Festplatz oder bei einem Discounter in der Nähe parken. Die letzten Meter gehen ihre Kinder also zu Fuß. Da sie sowieso auf dem Weg zur Arbeit seien, biete es sich an, das Kind schnell mitzunehmen. Neben Bequemlichkeit und Angst sind es aber auch das schlechte Wetter, überfüllte Busse und Mobbing im Schulbus, die manche Taxi-Eltern als Begründung nennen.
„Elterntaxis werden wir nicht verhindern können“, sagt Arnold. Den Müttern und Vätern aber Anregungen geben, über die Mobilität ihrer Kinder nachzudenken, Kinder zum Thema Verkehrssicherheit schulen und mithilfe von Schulwege- und Radwegeplänen sichere Rahmenbedingungen im Straßenverkehr schaffen – darum bemühen sich Schulamt, Polizei, Verkehrswacht, Stadtverwaltungen und die Schulen selbst. Wie weit sie mit diesen Anstrengungen, morgens, Viertel vor acht, vor unseren Schulen kommen werden, traut sich niemand zu prognostizieren. Dass irgendwann wieder 90 Prozent der Schüler ohne ihre Eltern den Weg in die Schule bestreiten, glaubt aber niemand.