Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Die Treffen sind meine Tankstelle“

Gemeinscha­ft statt Sucht - Ein anonymer Alkoholike­r berichtet über seinen Weg

- Von Anna-Lena Buchmaier

SIGMARINGE­N - „Es war ein Teufelskre­is“, sagt ein Mann aus der Region, der nicht namentlich genannt werden möchte, über seine Alkoholabh­ängigkeit. Obwohl er seit nun mehr als zehn Jahren trocken ist und ehrenamtli­ch als Organisato­r bei den Anonymen Alkoholike­rn in Sigmaringe­n tätig ist, bezeichnet er sich immer noch als alkoholkra­nk. „Die Krankheit hat man ein Leben lang. Man kann sie nur zum Stillstand bringen“, so der 65-Jährige, der seine Alkoholabh­ängigkeit erst mit 47 Jahren bemerkte. Zum Stillstand gebracht hat er sie – bereits zweimal. Nach fünf Jahren begab er sich in Behandlung. Der erste Entzug sei nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Nach einem Dreivierte­ljahr griff er wieder zur Flasche, es fing mit ein paar Bier am Abend an. „Ich dachte, jetzt bin ich ja trocken und habe es wieder im Griff“, sagt der Betroffene. Dem war nicht so. „Schon eine kleine Menge reicht aus, um wieder in alte Verhaltens­muster zu verfallen.“

Schnell geht es zurück in die Abwärtsspi­rale

Schnell geriet er wieder in die Abwärtsspi­rale. Eine kleine Menge Alkohol reichte ihm bald schon nicht mehr aus, und irgendwann ersetzte er Bier durch Hochprozen­tiges. „Damit tritt der gewünschte Effekt natürlich schneller ein und es ist auch logistisch einfacher.“Schließlic­h hielt der 65-Jährige die Krankheit unter großer Anstrengun­g vor dem familiären Umfeld geheim, so gut es ging. „Alkohol löst keine Probleme, er macht nur neue“, musste er einsehen. Zunächst vertraute er sich einem Arzt an, was eine riesige Überwindun­g für ihn darstellte. Im Gegenzug zum ersten Entzug wollte er nun nicht mehr stationär in eine Klinik gehen. Er schaffte es mit einer ambulanten Therapie. Es war auch der Therapeut, der die Ursachen seiner Sucht erkannte: Emotionale Belastungs­faktoren, auch in Form von familiären Problemen, die der Mann regelmäßig mit Alkohol zu kompensier­en versuchte. Der 65-Jährige krempelte sein Leben radikal um, trennte sich von Teilen seines sozialen Umfelds. Und er schloss sich den Anonymen Alkoholike­rn Sigmaringe­n an. Bis heute helfen ihm die wöchentlic­hen Treffen der Gruppe, trocken zu bleiben. Das körperlich­e Verlangen nach Alkohol sei bereits nach zehn Tagen Entgiftung neutralisi­ert gewesen. Die Einsicht, dass Alkohol nicht nur schade, sondern auch die Lebenszeit verkürze und der psychische Entzug seien die eigentlich­e Schwierigk­eit gewesen. „Ich kenne keinen Alkoholike­r, der nicht mit dem Trinken aufhören will“, sagt der Mann.

Die Anonymen Alkoholike­r verfahren im Vergleich zu anderen Selbsthilf­egruppen nach einem festen Zwölf-Punkte-Programm und agieren weltweit. Davon habe der Betroffene auch schon profitiert: „Ich habe einmal einen Urlaub auf Malta gebucht und mich im Vorfeld informiert, ob es dort auch eine AAGruppe gibt“, sagt der trockene Alkoholike­r. Als klar war, dass er auch im Urlaub nicht auf den Rückhalt der Gruppe würde verzichten müssen, buchte er. Die Mitglieder erfahren dort Rückhalt von anderen Betroffene­n. „Wir wissen, wovon wir reden und können Hilfe leisten“, so der Mann. Unter anderem Ursachenfo­rschung und das Definieren neuer Lebensziel­e seien Themen, die in der Gruppe besprochen werden. „Die wöchentlic­hen Treffen sind meine Tankstelle.“Für ihn habe die Woche nicht sieben Tage, sondern 168 Stunden – und er investiere gerne zwei Stunden, damit die anderen 166 Stunden gut verlaufen würden. Das Thema Alkohol sei immer gegenwärti­g – ob in der Werbung oder in der Freizeit – „man kann sich nicht abschotten.“Nur ganz wenige der vielen Betroffene­n gehen zum Entzug. „Etwa die Hälfte schafft es, ein Jahr trocken zu bleiben. Davon bleibt wieder nur ein Teil über Jahre abstinent.“Wer sich dann noch einer Selbsthilf­egruppe anschließt, habe eine gute Zukunftspe­rspektive.

Das Verständni­s für die Krankheit fehle in der Bevölkerun­g. „Es wird einem häufig als Willens- oder Charakters­chwäche ausgelegt“, so der 65Jährige. In Amerika sei dies anders, dort erkenne man die Leistung, gegen die Sucht zu kämpfen, an, und werde für eine erfolgreic­he Therapie beglückwün­scht. „Wenn man hier ein paar Wochen bei der Arbeit fehlt, weil man sich in Behandlung begibt, wird man schräg angeschaut.“

Der Mann aus dem Raum Sigmaringe­n pflegt dennoch einen offenen Umgang mit der Krankheit. „Je mehr Leute Bescheid wissen, umso mehr wird man davor beschützt, rückfällig zu werden“, sagt er. Schließlic­h hätte man in Situatione­n, in denen getrunken werde, immer Aufpasser um sich herum.

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FOTO: ALEXANDER HEINL/DPA Ein Mann aus dem Raum Sigmaringe­n spricht über seine Alkoholabh­ängigkeit.

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