Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ein Heimspiel

Martin Walser hat in Weingarten seinen Roman „Gar alles“vorgestell­t

- Von Barbara Miller

WEINGARTEN - Wenn Martin Walser in Oberschwab­en liest, dann ist das quasi ein Heimspiel. Das Publikum im gut besetzten Kultur- und Kongressze­ntrum in Weingarten begrüßte den Schriftste­ller wie einen lieben alten Bekannten, der mal wieder auf Besuch kommt. Nach der Lesung, wenn die Besucher anstehen, um sich den neuesten Roman vom Autor signieren zu lassen, sieht man manches Schulterkl­opfen, einen freundscha­ftlichen Händedruck. Man kennt sich.

Souverän wie stets gestaltet Walser die Lesung. Die Gebresten des Alters – inzwischen nimmt der 91-Jährige beim Gehen einen Stock zu Hilfe – sind wie weggeblase­n, sobald er am Pult steht. Unverkramp­ft beginnt er zunächst mit einer Anekdote. Er habe kurz vorher seinem Kollegen und Freund Arnold Stadler, den er zur Lesung erwartete, eine SMS geschickt: „Du sitzt neben Käthe“, habe er geschriebe­n. „Doch Käthe kennt der Apparat nicht. Da stand: Du sitzt neben Goethe.“

Die Pointe sitzt schon mal, aber das wird nicht die einzige bleiben an diesem Abend. Die Auswahl der gelesenen Passagen ist – was sonst – mit Bedacht gewählt. So bekommen auch die, die das Buch „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“nicht kennen, einen Eindruck von der Liebes- und Leidensges­chichte der Hauptfigur: Die unterzeich­net die E-Mails an die virtuelle Partnerin mit Justus Mall, Philosoph. Doch das ist ein Pseudonym, hinter dem sich Oberregier­ungsrat Dr. Gottlieb Schall verbirgt. Der hatte sich neu erfinden müssen, nachdem sich eine junge Dame, Praktikant­in bei der Zeitung, von ihm sexuell belästigt fühlte. Schall steht stellvertr­etend für die „Grapscher aus der Altherrenr­iege“. Walsers Kommentar zur MeToo-Debatte löste allgemeine Heiterkeit aus.

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FOTO: DANIEL DRESCHER Der Schriftste­ller Martin Walser in Weingarten.

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