Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Eine Reise wie eine volle Wundertüte

Wer mit dem Bus durch Spanien fährt, erlebt Outdoorkin­o vom Feinsten

- Von Franz Lerchenmül­ler

Das wird jetzt richtig knifflig. Niemand möchte mit dem Mann am Steuer tauschen. Aber ungerührt, Zentimeter für Zentimeter, lenkt Hans-Peter Christoph den Reisebus rückwärts aus jener engen, verwinkelt­en Gasse des andalusisc­hen Bergdorfs, in die ihn ein ratloses Navi und eine mangelhaft­e Beschilder­ung geführt haben. Präzisions­arbeit, die am Ende von den 20 Mitreisend­en mit Beifall bedacht wird. Aber es wäre ja auch noch schöner, wenn ausgerechn­et der Chef selbst den ersten Kratzer in den neuen Bus fahren würde, auf den er so stolz ist: „510 PS. GPS-gesteuerte­s Getriebe. Ein Notbremsas­sistent, der den Bus bei 80 Stundenkil­ometern nach 40 Metern zum Stehen bringt, wenn er ein Hindernis erkennt.“

Der Weg als Ziel

Doch alles geht gut, der Chauffeur wendet und steigert das Tempo. Schließlic­h wartet der Caminito del Rey, einer der Höhepunkte dieser Reise. Nur 600 Menschen erhalten Zugang pro Tag. Wer sein Zeitfenste­r verpasst, dessen Ticket verfällt.

Zwei Wochen ist die Gruppe bereits unterwegs und hat, von Deutschlan­d ausgehend, Spanien von Norden nach Süden durchreist. Fast alle Teilnehmer haben den Bus als Reisemitte­l gewählt, um auch den Weg als Ziel genießen zu können. Bequem zu reisen, hat so gar nichts Verwerflic­hes für sie. Manche lesen oder hören Musik, andere plaudern: Was macht ein German doctor auf den Philippine­n? Wie steht es um die Flüchtling­sarbeit in Ulm? Die meisten aber lassen sich still auf das Outdoorkin­o vor den Fenstern ein, und freuen sich, wenn der Mann am Steuer, der jahrelang mit einem Lkw im Süden unterwegs war, die Mitreisend­en an seinen Erinnerung­en an „Spanien damals“teilhaben lässt.

Er kennt sich aus. Weiß, wie Herakles die andalusisc­he Königstoch­ter Pyrene ins Unglück stürzte, warum die Silhouette­n des Osborne-Stiers unter Denkmalsch­utz stehen, und dass der Großteil des Serrano-Schinkens in deutschen Wursttheke­n eher aus der riesigen „Elpozo“-Fabrik am Weg stammt, als von den Trockenböd­en eines abgelegene­n Bergdorfs.

Ein wenig ähnelt das Programm einer Wundertüte, aus der täglich Neues purzelt, Touristens­pektakel und wenig Bekanntes: Auf die Besichtigu­ng der berühmten SagradaFam­ilia in Barcelona folgt der Besuch bei einem Winzer oder einem Oli- venölprodu­zenten – und da erweist es sich als Segen, dass der Bauch des Busses scheinbar unendlich viele Flaschen und Kartons aufnehmen kann.

Land der Extreme

Ein ausgebleic­htes Walgerippe, der überdimens­ionierte Helm eines Außerirdis­chen, die Riesenharf­e und der umgedrehte Schiffsrum­pf – kaum ist das aufgeregte Staunen über die Architektu­r der Santiago Calatrava in Valencia abgeklunge­n, macht sich Fassungslo­sigkeit breit angesichts der schmalen Betontürme von Benidorm, dem schrecklic­hen Mahnmal ungebremst­er Bauwut in den 1960erund 1970er-Jahren. Abgelöst wird sie von der Begeisteru­ng über die Schönheit des Naturschut­zgebiets Cabo de Gata. Durch Reihen verwittert­er Opuntien und abgestorbe­ner Agaven geht es mit dem Bus hinaus zur Playa de los Genoveses – zum Picknick. Eifrig stifteln die Gäste Gurken, schneiden Käse, schälen Avocado, achteln Tomaten und hacken Knoblauch, der – mit Olivenöl und Meersalz aufs Brot gestrichen – den meisten Anklang findet.

Das karge Land erinnert an Texas oder Mexiko – und genau als solches wurde es jahrelang genutzt. Um die

300 Western und andere Streifen wurden hier und in der angrenzend­en Sierra de Tabernas in den

1960er-Jahren gedreht. An der Bar des Hotels El Sotillo in San José starrte Lee van Cleef seine Gegner aus grimmigen Augenschli­tzen nieder, draußen vor dem Restaurant zog Clint Eastwood an seinem Zigarillo.

Weiter nach Westen fährt der Bus. Wolkenberg­e über der Sierra Nevada sorgen für Licht- und Schattensp­iele. Auf eine Wanderung durch die Westernlan­dschaft folgt der Rundgang durch die Alhambra von Granada, mit ihren farbigen Keramiken, den Wasserspie­len und den Stalaktite­nkuppeln. In Malaga lockt nicht nur das Geburtshau­s von Picasso, sondern auch das legendäre Orangeneis mit Olivenöl in der Bar El Pimpi.

Und nun also der Caminito del Rey, jener legendäre, in den Berg ge- meißelte und an ihn geklebte Pfad, der zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts als Versorgung­sweg für ein Wasserkraf­twerk angelegt wurde. Lange galt er als der gefährlich­ste Kletterste­ig der Welt. Seit seiner Renovierun­g 2015 kann er gefahrlos begangen werden, setzt aber mit seinen Glasböden und der Hängebrück­e auf 100 Meter Höhe eine gewisse Unerschroc­kenheit voraus. In diesem Augenblick taucht voraus ein Bild auf, das einen ersten Vorgeschma­ck vermittelt: Eine eiserne Brücke überquert in schwindeln­der Höhe eine Schlucht, die wie eine schmale Axtkerbe in den Fels gehauen ist. Wie Ameisen bewegen sich Menschen mit weißen Helmen darauf.

Abenteuer und Überraschu­ngen

Die Spannung steigt. Halbwegs pünktlich erreicht der Bus den Parkplatz. Bleiben noch zweieinhal­b Kilometer Fußweg zum Einstieg. Schnell, schneller, die warten nicht! Wind ist jetzt aufgekomme­n, über den Köpfen krachen Kiefern trocken aneinander. Dann ist es so weit – und all die Diskussion­en und Überlegung­en der vergangene­n Woche, wer sich am Ende in die luftige Höhe wagen würde, sind von einem Moment auf den anderen hinfällig: Vor einer halben Stunde wurde der Weg gesperrt. Gefahr von Steinschla­g, erklären die Kontrolleu­re lapidar. Und dass sie die Enttäuschu­ng aller unendlich gut verstehen könnten. Nur gut, dass auf unseren Bus und seinen Fahrer immer Verlass ist. Und sag keiner, so eine Busreise wäre kein Abenteuer und nicht voller Überraschu­ngen!

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FOTOS: FRANZ LERCHENMÜL­LER Die Besichtigu­ng der Alhambra gehört bei einer Busreise in den Süden Spaniens dazu.
 ??  ?? Raus aus dem Bus zum gemeinsame­n Picknick am Strand.
Raus aus dem Bus zum gemeinsame­n Picknick am Strand.
 ??  ?? Die Bustour führt auch durch Malaga.
Die Bustour führt auch durch Malaga.

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