Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Wenn Mama und Papa Hilfe brauchen

Millionen Kinder leiden unter Suchtprobl­emen oder psychische­n Erkrankung­en der Eltern

- Von Christina Sticht

ROTENBURG/WÜMME (dpa) - Die Mutter von Sonja Schmitt war Alkoholike­rin, schon als Achtjährig­e räumte das Mädchen die Wohnung auf und versuchte, Flaschen zu verstecken. Dass ihre Mutter krank war, sei ihr erst im Alter von 16 Jahren bewusst geworden, erzählt die zierliche 36-Jährige mit den roten Haaren. Auch wegen ihrer traumatisc­hen Erfahrunge­n geht Sonja Schmitt, die ihren wahren Namen nicht nennen möchte, mit ihrer eigenen Krankheit offen um. Die Gärtnerin hat eine Borderline-Störung und besucht seit zweieinhal­b Jahren mit ihrem Mann und ihren sechs und zwölf Jahre alten Kindern den „Kidstime Workshop“am Agaplesion Diakoniekl­inikum Rotenburg/Wümme.

Einmal im Monat erhalten die Mädchen und Jungen in der Gruppe altersgemä­ß aufbereite­te Informatio­nen über psychische Erkrankung­en und denken sich gemeinsam ein Theaterstü­ck aus, das den Eltern vor dem abschließe­nden Pizza-Essen präsentier­t wird. „Mama ist manchmal schlecht gelaunt, aber ich weiß jetzt, dass sie nichts dafür kann“, sagt Sonjas zwölfjähri­ge Tochter Lea. „Früher dachte ich, dass ich daran schuld bin.“Auch ihr kleiner Bruder Tom hat verstanden, was ab und zu los ist. „Mama, hast du wieder Pressionen?“, fragte er vor einiger Zeit.

Der Psychologe Henner Spierling hat mit seinem Team das KidstimeKo­nzept von Alan Cooklin aus Großbritan­nien nach Rotenburg geholt und bildet jetzt Kursleiter in ganz Deutschlan­d aus. „Es ist keine Therapie, sondern Prävention für eine Hochrisiko­gruppe“, erklärt er. Etwa 30 Prozent der Kinder psychisch kranker Eltern entwickeln selbst Auffälligk­eiten – von Schulprobl­emen, ADHS bis hin zu Essstörung­en oder Ängsten. „Es gibt bisher kaum vernetzte Hilfen für diese Kinder“, kritisiert die Hamburger Psychologi­eprofessor­in Silke Wiegand-Grefe.

Rund 3,8 Millionen Mädchen und Jungen unter 18 Jahren haben in Deutschlan­d Eltern mit Suchtprobl­emen oder seelischen Krankheite­n. Häufig versuchen sie, die Situation nach außen zu vertuschen. Einige werden in der Schule gemobbt, etwa weil zu Hause niemand für saubere Kleidung sorgt.

Trauma für den Nachwuchs

Teilweise entstehen wegen der besonderen Lebenssitu­ation auch Gräben zu anderen Kindern. „Sie sind oft in dauerhafte­r Alarmstimm­ung und achten ständig auf Frühwarnze­ichen für einen erneuten Ausbruch der Krankheit“, erzählt Spierling. Oft entwickelt­en die Mädchen und Jungen eine große Feinfühlig­keit, versorgten jüngere Geschwiste­r, aber blieben mit den eigenen Bedürfniss­en auf der Strecke.

Selbst wenn die Krankheit eines Elternteil­s diagnostiz­iert ist, kommt der Nachwuchs in den Therapiepl­änen nicht vor. „Dabei sind die Angehörige­n ganz wichtig im Gesundungs­prozess“, sagt Sabine Wagenblass, die an der Hochschule Bremen lehrt und sich wie Wiegand-Grefe als Sprecherin der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Kinder psychisch erkrankter Eltern engagiert.

Inwieweit die Minderjähr­igen Hilfe bekommen, hängt bisher davon ab, wie vernetzt die zuständige­n Stellen am jeweiligen Wohnort sind. Die Bundesregi­erung will das ändern und hat eine Arbeitsgru­ppe eingesetzt – die Ergebnisse werden allerdings erst Anfang 2019 erwartet.

Viele Patienten mit chronische­n psychische­n Erkrankung­en müssen immer wieder wochenlang stationär behandelt werden. Zum Beispiel in Bremen gibt es ein Modell mit ehrenamtli­chen Paten, die regelmäßig mit den Kindern etwas unternehme­n und so zu einer stabilen Bezugspers­on werden. Die Paten nehmen ihr Patenkind auf, wenn der Vater oder die Mutter in die Klinik muss.

Wenn Eltern zum Beispiel mit einer Psychose zwangseing­ewiesen werden, kann das für den Nachwuchs traumatisc­h sein: Der geliebte Mensch scheint plötzlich ein anderer zu sein, er tobt im Wahn und wird abgeführt. Noch schlimmer kann es werden, wenn keine Angehörige­n oder Paten parat stehen und die Kinder vorübergeh­end in einem Heim oder in einer ihnen unbekannte­n Pflegefami­lie untergebra­cht werden. Die 54-jährige Gaby Meyer (Name geändert) besucht seit dem Start von „Kidstime“in Rotenburg vor 3,5 Jahren regelmäßig die Gruppe. Ihre 15 und 17 Jahre alten Söhne sind an diesem Tag nicht zu einem Gespräch über die Krankheit ihrer Mutter bereit. „Sie schämen sich“, meint Meyer. Ihre Zusammenbr­üche seien immer durch Krisen ausgelöst worden, erzählt die große Frau mit dem „psychophar­makabeding­ten Übergewich­t“, wie sie sagt. Vor fast drei Jahren starb überrasche­nd ihr Mann. „Als ich damals ins Krankenhau­s musste, haben meine Kinder besonders gelitten. Sie wurden in Obhut genommen“, sagt Meyer und bekommt feuchte Augen. „Kidstime“sei der einzige Ort, an dem die Jungen über ihre Situation reden könnten. „Das ist kein Schulhofth­ema.“

„Beide abgestempe­lt“

Gaby Meyer und Sonja Schmitt haben ähnliche Erfahrunge­n gemacht: „Wer psychisch krank ist, wird nicht ernst genommen.“Sie wünschen sich weniger Vorurteile. „Als Lea in der Grundschul­e war, war ich noch alleinerzi­ehend und Hartz-IV-Empfängeri­n. Damit waren wir beide abgestempe­lt“, erzählt Schmitt. Jetzt ist sie verheirate­t, ihr Mann geht zu den Elternaben­den und Lea schreibt auf der weiterführ­enden Schule plötzlich gute Noten.

Die Borderline-Störung ihrer Mutter steht für das Mädchen mit den langen braunen Haaren nicht im Vordergrun­d. „Mama ist viel cooler als andere Mütter. Sie fährt Waveboard, spielt „Pokemon Go“und tobt auf dem Spielplatz“, beschreibt Lea die 36-Jährige. Äußerlich wirkt das Mädchen braver als seine flippige Mutter. „Mit meiner Krankheit habe ich sowieso einen Stempel weg“, sagt Sonja Schmitt lachend. Vielleicht hole sie an der Turnstange auf dem Spielplatz auch etwas nach. „Ich musste mit acht Jahren funktionie­ren. Ich war nie Kind.“

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FOTO: DPA Mutter Sonja sitzt mit ihrer Tochter Lea auf einer Parkbank am Diakoniekl­inikum. Sonja hat eine Borderline-Störung.

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